Autismus, Begabung und Lernen

Die besondere Fähigkeit umfassenden 'In-Beziehung-Seins' und das 'Immer-Schon-Da' eines teilhabenden Bewusstseinsstroms, der zu diesem 'In-Beziehung-Sein' führt.

 

Neulich sagte ein Schüler zu mir: "Die Dinge, die ich kann, kann ich sofort." Er zweifelte  den zeitlichen Vorgang des Lernens an (eine häufige Erfahrung mit ADHS-veranlagten Menschen). Entweder, so seine Wahrnehmung, ist alles sofort klar oder es ist eben als 'Lernbares' sozusagen nicht existent. 

 

Ich stelle hier nun eine vielleicht etwas provokante These auf: Der Junge hat in großen Teilen durchaus Recht. Und autistische Fähigkeiten wie sie in singulären Fällen durch die sogenannten "Savants" oder auch "Idiots Savants" bekannt sind, könnten die Ansicht des Jungen zumindest teilweise stützen. Lernen kann so schnell erfolgen, dass es sich eher als eine Art schlagartig vorhandenes Wissen offenbart - durch 'wissende Erkenntnisse', welche sich in Form innerer Bilder mitteilen, deren Erscheinen so schnell erfolgt, dass man von einem normalen zeitlichen Lernverlauf gar nicht mehr sprechen kann. Es handelt sich dann wohl eher um so etwas wie "unmittelbare innere Erkenntnisse". 

 

Schon das Wort 'Erkenntnis' weist in seiner sprachlichen Logik (die Endung -is bezeichnet einen zeitlichen Vorgang, der bereits stattgefunden hat) auf etwas hin, das vorher noch nicht gekannt wurde. Das allerdings könnte man hinterfragen. Vielleicht ist das menschliche Bewusstsein über bestimmte Strukturen dermaßen mit der Außenwelt verflochten, dass es eigentlich nur darum geht, diese Verwebung dem Geist zugänglich zu machen und im richtigen Kontext wahrzunehmen, in dem die Filter, die eine Wahrnehmung dessen verhindern, durchlässig oder durchlässiger gemacht werden. Vermutlich wurden sie von der Natur als notwendiger Schutz vor Überfrachtung und Überflutung mit Information wie ein evolutionärer Damm aufgebaut. Schließlich brauchte der Mensch erst einmal auch die Fähigkeit, sich in einer 'Realzeit' zu orientieren und dort langsam Wahrnehmungen zu integrieren, um in den Prozess einer zeitlich sich vollziehenden Evolution vorsichtig mit einsteigen zu können. Aber vielleicht ist in dieser Evolution bald ein Zeitpunkt gekommen, wo der menschliche Geist auch dazu fähig ist, seine eigene Einschränkung durch die Zeit zu überwinden, indem er sich selbst und seine bereits vorhandenen Fähigkeiten, alles auf eine sehr spezifische Weise schon zu wissen, wirklich erkennt. 

 

Lernen wäre demnach auch ein Prozess sich ständig vervollkommnender Selbsterkenntnis. Der Geist bildet seine eigene Natur nicht mehr nur dadurch ab, dass er die Außenwelt beschreibt und verstehend analysiert, sondern er liefert vielmehr multiperspektivische Emergenzen, also Phänomene, die aus seiner eigenen Verwebung mit den Dingen, die er betrachtet, entstehen. Nichts anderes ist ja nebenbei gesagt auch Kunst: ein 'Mehr' entsteht daraus, dass der Geist offenbar mehr ist, als bloße Natur. 

 

Was aber würde das bedeuten in Bezug auf das Lernen z.B von einer Sprache oder eines Musikstückes? 

 

Ich denke, es würde bedeuten, dass der Lernende in der Lage ist, sein eigenes Bewusstsein als Teil des zu lernenden Systems (Sprache, Musik, Mathematik...) wahrzunehmen und in dieser Wahrnehmung das 'Verstehen' anders zu steuern. Dieses 'teilnehmende Verständnis' eines noch "unbekannten" Äußeren würde dann vermutlich durch eine Art bildhafter Übersetzung, deren Ablaufmöglichkeit von der "Befreiung" der Filterblockaden unterstützt wäre, erfolgen. Ein Beispiel: Ich erlebe ein Präludium von Bach nicht mehr als verwirrende Überflutung schwer zu memorierender Tonkaskaden, sondern ich kann das Zusammenwirken des tonalen Systems nun als ein mehrdimensionales Bild in mir wahrnehmen und es sogar sukzessive abrufen. Oder am Beispiel Sprache: Ich erlebe die Syntax und die Flut an neuen Vokabeln einer fremden Sprache nicht mehr als Kauderwelsch, das ich mir mühsamst aufschlüsseln muss, sondern ich erfasse das "musikalische" Gesamtsystem der Laute und ihre grammatikalischen Varianten auf eine Art und Weise, in der mir das Gesamtsystem 'Sprache' wie ein Gebäude mit zahlreichen Räumen und Nischen, Stockwerken und Türen unmittelbar zugänglich und verstehbar wird. 

 

Es würde sich also um einen Vorgang mehrdimensionaler Verbildlichung handeln, durch den die sukzessiv-zeitliche Langsamkeit der sozusagen horizontal ablaufenden Erkenntnis   abgelöst wird durch die Gleichzeitigkeit vieldimensionaler Wahrnehmungs- und Denkvorgänge. Einer Gesamtwahrnehmung, die sich auch dadurch auszeichnet, dass sie eine Verbindung zwischen akustischen Vorgängen (als horizontal-zeitliche Qualitäten) und visuellen Vorgängen (als vertikal-räumlich-zeitliche Qualitäten) herzustellen in der Lage ist. Dies kann auch so geschehen, dass eine rein abstrakte Zahlen-Qualität in eine wie auch immer ablaufende zeitlich-räumliche Qualität transformiert wird. 

 

Die autistischen Fähigkeiten, welche sich oft genug als Fähigkeiten zur rein bildhaften und multiperspektivischen Wahrnehmungsverarbeitung erweisen, könnten hier m.E. durchaus eine Art Evolutionssprung markieren - einen qualitativen Sprung in den geistigen Fähigkeiten der Menschen, sowohl linear-logisch und ableitend zu denken, als auch sprunghaft-bildhaft Wahrnehmungs- und Denkräume zu erschließen, die die (falsch verstandene) Eindimensionalität logischen Denkens mehrdimensional erweitern.

 

Nichts anderes ist doch Kreativität, mag man an dieser Stelle einwenden und dies alles ist ganz normal und Jahrtausende alt. Ich denke, das ist es auch. Allerdings hat unsere Zivilisation seit dem Zeitalter des Rationalismus die bildhaften Fähigkeiten eher den Künstlern zugesprochen und das Gebiet des Lernens dem Joch der Eindimensionalität unterworfen. Heute zeigen uns schon die neuen Bild-Techniken der Computer-Software in vielen Bereichen, dass möglicherweise ganz andere Zeiten des Auffassens und Lernens längst begonnen haben. 

Michels Monolog

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Dialog über Sprache (1)

M: Heute morgen habe ich mich gefragt, warum Menschen überhaupt Sprache erfunden haben. Warum sind sie nicht 'Tiere' geblieben und haben wie diese kommuniziert? Einfach weil ihnen die Evolution "zufällig" bessere Lautwerkzeuge, also eine komplexere Artikulationsmuskulatur, geschenkt hat? Warum entstand das Bedürfnis, 'Dinge' durch Laute zu benennen? Bienen zum Beispiel kommunzieren über Tänze und teilen sich so mit, wo gute Blütengebiete zu orten sind. Aber schon hier sind wir an einem entscheidenden Punkt: Kommunikation scheint der Orientierung im Raum zu dienen. Welches Mittel (Laute oder Tänze oder Geruchsinformationen oder visuelle Reize) dabei verwendet wird, ist wahrscheinlich (erstmal) nicht so entscheidend. Allerdings gibt es wohl bei der Zuordnung von Information zu bestimmten Lauten die Möglichkeit der Vieldeutigkeit. Ich kann die Nachricht von einer Wasserstelle (ich denke jetzt gerade an unsere nomadisierenden Vorfahren) mit einem bestimmten Laut verbinden und diese Zuordnung sollte eindeutig sein, da sonst unnötige Energie und Gefahr entsteht. Gleichzeitig scheinen Menschen irgendwann entdeckt zu haben, dass die Willkürlichkeit der Zuordnung von Laut zum Ding auch andere Möglichkeiten der Kommunikation entstehen lassen, z.B. kann einer den anderen mit einer Information bewusst in die Irre führen, um sich selbst einen Vorteil zu verschaffen. 

 

S: Ich find es wichtig (und spannend) erst einmal festzuhalten, dass Kommunikation nicht gleich Sprache ist, sondern Sprache eine spezielle Form der Kommunikation ist und damit eine unter anderen Kommunikationsformen. Allein an diesem Punkt ist es vielleicht schon ein gravierender Perspektivwechsel, wenn man sich (immer wieder) klar macht, dass 'Nicht-Sprechen' eben nicht 'Nicht-Kommunizieren' ist. Und die Frage ist, mit welcher Art der Kommunikation kommuniziert es sich vielleicht leichter als mit Sprache? 

 

Hierzu lese ich in der Davis-Arbeit und auch in dem Buch von Iris Johansson interessante Informationen, die deutlich machen, dass VOR der sprachlichen Kommunikation die Kommunikation auf einer ganz anderen Ebene erfolgt. Und es genau diese Ebene zu sein scheint, die es einer autistischen Person erlaubt, erfolgreich in die Gesellschaft einer anderen Person einzutreten und als weiteren Schritt dann auch Kommunikation auf der Ebene von Gesten oder Sprache aufzunehmen.

 

M: Ein spannender Punkt: Sprache hat als Kommunikationsmittel nicht nur mit präziser Informationsübertragung zu tun, sondern auch mit der Möglichkeit von Verwirrung und Unverständnis. Diese multible Möglichkeit erschwert für Autisten, die sich unter zu viel Andrang von Information in ihre eigenen Welt zurückziehen, das Verständnis. Deswegen sind ihnen non-verbale, gestische, körpersprachliche oder ganz andere Formen des Kommunizierens womöglich besser zugänglich. 

 

S: Sprache kommuniziert über Inhalte. Inhalte werden in Form von multisensorischen Inhalten (lt Davis) im bildhaften Denken erfasst und verarbeitet. Dieses multisensorische Bild ist sprachunabhängig und daher auch nicht an Sprache gebunden. Das heißt, dass z.B. auch allein ein Gefühl, dass ich empfinde, ebenfalls ein Inhalt ist, der sich kommuniziert, ohne dass Worte hierfür notwendig sind.

Diese Davis-Perspektive findet sich in vielen Passagen in dem Buch von I. Johansson wieder, zum Beispiel, wenn sei beschreibt, wie ihr Vater ihr allein mittels gedachter Bilder ohne Worte mitteilt, sich anzuziehen. Ein Procedere, dass ihr ansonsten Panik verursachte und ein Ding der Unmöglichkeit für sie war. Mit Hilfe der bildhaften vollständig druckfreien Kommunikation des Vaters ohne jegliche Worte, finden die einzelnen Kleidungsstücke einen Weg in ihr Bewusstsein und von dort dann auch an ihren Körper.

 

M: Sprache im mehrdimensionalem Raum der Kommunikation scheint für Autisten auch deswegen ein schwieriger Vorgang zu sein, weil der Raum ihrer eigenen Wahrnehmung mit ganz vielen Signalen und potentiellen Bedeutungsträgern gefüllt ist, die ihnen zur inneren Orientierung dienen. Die aber nicht unbedingt mit der jeweiligen realen kommunikativen Situation, die entsteht, wenn ein anderer Mensch in diesen Wahrnehmungsraum eintritt, etwas zu tun haben. Was hat der einfallende Lichtstrahl durchs Fenster damit zu tun, dass mich gerade jemand fragt, ob ich etwas essen will? Erstmal rein gar nichts. Diese gestellte Frage setzt voraus, dass sich die multisensorische Orientierung des Bewusstseins millisekundenschnell zu präzisen und in der momentanen Situation neu entstehenden Orientierunspunkten bewegen muss, um adäquat antworten zu können. Und schon der zentrale Punkt, nämlich: "Habe ich gerade Hunger?" als einfacher und natürlicher Punkt der Innenfrage an mich selbst, setzt, um im Außen antworten zu können, voraus, dass ich mich zu diesem inneren 'Bedürfnispunkt' hinbewegen können muss, ihn als solchen kennengelernt haben muss. Und zwar als solchen, der mich befähigt, ihn als 'kommunikativen Bedürfnispunkt' zu erleben, der eine entscheidende Relevanz in meiner eigenen Orientierung hin zu kommunikativen Situationen mit anderen Menschen inne hat. Wohl kennt ein autistischer Mensch das "Innengefühl" von "ich habe Hunger". Aber er hat nicht gelernt, dass es gut sein kann, diesen Zustand außer mit sich selbst auch mit einem anderen Menschen über bestimmte gesprochene Lautäußerungen zu kommunizieren. Er würde vermutlich eher selbst auf die Suche nach etwas Essbarem gehen, als sich darin an eine andere Person zu wenden. Oder er würde davon ausgehen, dass andere Personen diesen Zustand des Hungers auch anders kommunizieren können müssen, außer über völlig willkürliche Lautsysteme. 

 

S: “Kommunikation dient der Orientierung im Raum” sagst du. Das ist wieder eine interessante Aussage, über die ich erst einmal noch etwas mehr nachdenken muss. Mir wäre dieser Gedanke so gar nicht gekommen, aber ja! Ich kann ihn nachvollziehen. Dass es nicht ausreicht ein Objekt zu sehen und zu bezeichnen. Dies allein gibt noch keinen Kommunikationsimpuls. Sondern mein oder jemandes Verhältnis zu diesem Objekt löst einen Kommunikationsimpuls schon viel eher aus.

Da wird es mir dann deutlich, dass hier 2 Welten im Alltag aufeinanderstoßen können. Wenn man sich als Autist in einem natürlichen Desorientierungszustand befindet, heißt, ich bin überall und nirgends, mit Objekten oder anderen Sinneseindrücken meiner Wahl verbunden und beschäftigt, dann existiere ich in einem anderen Raum-Zeit-Gefüge, als ich dies tue, wenn ich in einem kommunikativen Zustand bin, den ich (nach Davis) "orientierten Zustand" nenne. Für diesen Prozess begebe ich mich an einen einzigen Ort, der mit der Position meines Körpers übereinstimmt und stehe damit in einem anderen Verhältnis zu den Dingen, die mich umgeben. Allein diese 2 unterschiedlichen Ausgangspunkte können in sich schon für ein Verwirrungs- und auch Schreckpotential sorgen, wenn eine autistische Person angesprochen wird – ohne bereits in einem sogenannten orientierten Zustand zu sein.

 

M: Die Frage wäre also dann, ob es auf der therapeutischen Ebene nicht sehr sinnvoll sein kann, die non-verbalen Formen der Kommunikation, wie zum Beispiel Körpersprache, Blicke, Gesten, bewusst einzusetzen und zu trainieren. Denn diese Formen sind allemal schneller da, als die Transformationen in Sprache. 

Auch haben Autisten ja ein sehr eigenes Körpergefühl, oft ungelenke und tapsige Bewegungen, die aus dem Zustand der Desorientierung folgen. Mit diesen in eine kreative Ebene des Ausdrucks zu kommen, in ein Körpergefühl zu gelangen, was erst mal zu mehr Grundentspannung führt, wäre meines Erachtens ein erster Schritt, bevor Sprache überhaupt ein produktives Medium des Austausches werden kann. 

 

S: Sprache allein im Sinne von Sprechen mit Lauten macht eben noch keine gelungene Kommunikation aus. Der nonverbale Anteil von Kommunikation ist ein ebenfalls weites und komplexes Feld, so dass ich gerne in einem weiteren Dialog speziell diesen Aspekt noch weiter beleuchten würde. 

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Dialog über das "Ich"-Gefühl

 

Von vielen Autisten wird berichtet, dass sie kein wirkliches 'Ich-Gefühl' hätten. Woran wird dies bemerkt?

 

M: Zunächst beobachten wir bei Autisten, dass da etwas "anders" ist. Aber was ist da "anders" und ist das etwas, was mit einem Ich-Gefühl zu tun hat? Klar scheint nur zu sein, dass die Perspektive der Wahrnehmung eine andere ist. 'Wahrnehmung' aber hat direkt etwas mit dem Gefühl von Identität/Personalität zu tun, - viele schwierige Begriffe...

 

S: Meine Ich-geprägten Impulse gehen vorrangig von meinen Bedürfnissen aus. Wenn ich mit Klienten gearbeitet habe, habe ich häufig erlebt, dass manche Bedürfnisse gar nicht wahrgenommen oder manchmal vielleicht auch nur nicht geäußert werden. Aus meiner Perspektive (vor dem Hintergrund meiner Ausbildung) stellt die Ausgangsituation eines fehlenden Ich-Erlebens, wenn dies denn so ist (und das fände ich spannend hier näher zu diskutieren), einen wesentlichen Teil des unterschiedlichen Erlebens und Reagierens im Alltag aus, der nicht leicht zu fassen ist.

 

Aber woher kommen 'Ich-Impulse' und wie unterscheiden sich Impulse, die von einem 'Ich-Erleben' gesteuert sind von Impulsen, die ohne dieses klare 'Ich-Erleben' gesteuert sind?

 

S: Meine Einschätzung an dieser Stelle ist, dass Impulse IMMER von einem Bedürfnis herrühren (bzw. instinktivem Drang), weil durch sie auf ganz grundlegender Ebene das eigene Überleben gesichert wird und sie zunächst auch genau diese Funktion haben. Wenn es jedoch (noch) kein 'Ich-Erleben' gibt, dann sind die Impulse, die zu beobachten sind und die sich vermutlich vollständig ohne bewusste Steuerung umsetzen, eventuell die Fährte auf der man zu dem bereits existierenden "Ich" finden könnte. Welches jedoch wahrscheinlich nur wenig bis kaum/gar nicht entwickelt ist. Und dann wäre die Frage, wie und was fördert diese Entwicklung.

 

M: Ein Impuls hin zu etwas, also: etwas zu wollen oder nicht zu wollen, setzt ja voraus, dass vorher auf der Ebene der Wahrnehmung etwas "funktioniert" hat, was zu diesem Impuls führt. Ich fürchte, dass (hier spreche ich aus eigener Betroffenheit), da bei Autisten so Einiges zumindest ganz anders "funktioniert" hat und dieses Andere wiederum dazu führt, dass wir es hier nicht mit den "normalen" Impulsen des Wollens und der Bedürfnisbefriedigung zu tun haben. Weil solche normalen Impulse voraussetzen würden, dass auf einer sehr frühen Ebene eine Informationsverarbeitung stattfinden konnte, die die Wahrnehmung dazu führt, zu wissen, was ein 'EIGENES BEDÜRFNIS' im Sinne dessen, was als "normal" gilt, ist.

 

S: Kannst du Beispiele geben für Impulse, so wie du sie aus autistischer Perspektive wahrnimmst?

 

M: Ich glaube, dass mit entscheidend an autistischer Wahrnehmung (so wie ich sie jedenfalls erlebe) ein Impuls des 'spezifischen Abwendens', des 'Wegdrehens' der Wahrnehmung ist, einer eigenen Wahrnehmung, die vermutlich auf ganz früher Stelle überfordert war oder jedenfalls nicht in der Lage, Informationen so zu verarbeiten, dass ein einfaches 'Hinwenden zu' möglich wäre. Daraus resultieren dann Impulse des "Handelns" oder "Wollens", die sich von der überfordernden Umwelt abwenden. Ich glaube nicht, dass das bereits Ich-Impulse sind, sondern es sind Schutz-Impulse vor Überflutung.

 

S: Das finde ich sehr spannend. Denn das kann ich wiederfinden in meinen Beobachtungen und ich würde sagen, dass genau diese Schutzimpulse auch 'Ich-Impulse' sind, weil sie ein "Ich" schützen, was vermutlich nicht als "Ich" erlebt wird, weil es noch viel zu wenig ausgeprägt und entwickelt ist.

Und ein noch etwas ergänzender Gedanke an dieser Stelle: es macht unter Umständen auch Sinn bei Bedürfnissen eine Unterscheidung zwischen instinktgetriebenen Bedürfnissen und weiter entwickelten Bedürfnissen (hierfür habe ich gerade keinen Namen) zu unterscheiden. Die instinkt-getriebenen Bedürfnisse sind immer mit der direkten Überlebenssicherung verknüpft. Es gibt aber auch andere Bedürfnisse, wie zum Beispiel einen Spaziergang am Meer machen zu wollen, um ihn und die Natur zu genießen oder sich Bewegung zu verschaffen oder ein Eis essen zu wollen. Diese Bedürfnisse sind weniger instinkt-getrieben, sondern eher mit meinem persönlichen Wohlbefinden verknüpft und von Emotionen angetrieben. Und für diese Art von Bedürfnissen braucht es vermutlich ein 'mehr' an 'Ich-Identität' als für rein instinktive Bedürfnisse, die biologisch in uns angelegt sind.

 

Aber was könnte eine (reife) 'Ich-Identität' ausmachen? Was ist ein "Ich"?

 

M: Ich vermute, ein "Ich" bildet sich, neben dem Erleben einer realen Bedürfnisbefriedigung, welches dann wiederum zu einem 'Wollen' weiterer Bedürfnisbefriedigung führt, auch dadurch heraus, dass schon zu einem frühen Zeitpunkt (den wir später diskutieren müssen), so etwas wie ein natürliches Grenzgefühl zur Mutter entwickelt wird. Das Kleinkind beginnt zu registrieren, dass der eigene Erlebensraum von dem der Mutter unterschieden ist und das gerade durch diese Unterscheidung eine 'ich-gesteuerte' Bedürfnisbefriedigung möglich wird. Dieses Gefühl des unterschiedenen Raumes setzt schon vor dem Spracherwerb ein (dies kann ich nur vermuten). Es ist wohl eine Art 'Instinkt', der dem neu heran wachsenden Wesen zu Teil wird, wenn diese Abgrenzung zum "Muttertier" informativ möglich ist.

 

S: Was meinst du mit informativ möglich?  Und – hier bin ich keine Spezialistin, sondern verfüge nur über laienhafte Information: die Phase der Abgrenzung im Sinne von Erleben, dass man getrennt von der Mutter existiert, findet (m.E.) sicher weit vor der Sprachentwicklung statt .

 

Meine momentane Einschätzung zu dem Punkt ist, dass es so etwas wie eine 'Kern-Identität' gibt, die zunächst überhaupt eine 'Ich-Wahr-nehmung' ermöglicht. (Dies lässt sich wiederfinden in der Davis-Theorie). Diese Kernidentität entwickelt sich früh und ist für eine erfolgreiche Entwicklung auf das aller Empfindlichste auf Schutz angewiesen, um sich überhaupt bilden zu können und extrem störanfällig. Ist sie entwickelt, dann folgen daraus klar erlebte 'Ich-Impulse', die die Entwicklung einer Identität weiter anhand von Bedürfnissen vorantreiben, durch die verschiedenen Phasen der kindlichen Entwicklung hindurch.

 

M: Wobei klar zu sein scheint, dass es unterschiedlichste Formen der Entwicklungsstörung personaler Identität geben kann. Sie führen zu narzisstischen Symptomen, Depressionen, Essstörungen, Zwangs-handlungen etc..

 

Mir wäre es demgegenüber wichtig darauf hinzuarbeiten, dass Autismus "...eigentlich nur eine andere neuronale Kultur ist", wie sich Esther Schramm in ihrem Beitrag auf Deutschlandradio ausdrückt. Mit anderen Worten: der Begriff der "Ich-Störung" wäre meines Erachtens mit großer Vorsicht zu gebrauchen. Es scheint sich um so etwas wie eine abweichende personale Verfasstheit zu handeln, wo das "Ich" sozusagen "anders unterwegs" ist, seine Orientierungspunkte in Raum und Zeit anders "aushandelt", als das der (vermeintlich) normale Mensch macht.

 

S: Dem würde ich mich vollständig anschließen! Das Interview gefällt mir ausgesprochen gut, und hier werden deutliche, klare Ich-Bedürfnisse formuliert und vertreten aus einem Verständnis für die eigene Person heraus, wie man gestrickt ist und was einem gut tut. Heißt dies eventuell auch, je mehr ich in dem inneren Anpassungskonflikt gefangen bin, zu versuchen, so zu sein, wie ich denke, dass meine Umgebung dies verlangt, weil ich denke, dass dies notwendig ist – aus einem falschen oder ungenügenden oder fehlenden 'Ich-Verstehen' heraus, desto weniger finde ich einen klaren Zugang und als Folge auch keinen Ausdruck meiner Bedürfnisse? In dem Moment, wenn das 'Ich-Verstehen' sich so, wie nach der Diagnosestellung (höre dazu Esther Schramms Beschreibung...) einstellt und zu mehr Selbstvertrauen führt, ist es mir möglich, klarer meine Bedürfnisse zu identifizieren und dann auch zu äußern/umzusetzen.

 

Was ich an dieser Stelle (der Ausprägung von 'Ich-Identität') auch spannend finde, ist die Arbeit von Peter Levine, der – soweit ich informiert bin - sich wiederum auf die Arbeit von Stephen Porges bezieht und die Entwicklung des zentralen Nervensystems mit der Entwicklung der Fähigkeit in Erregung und wieder in Beruhigung zu kommen in Bezug auf Trauma und Traumaheilung intensiv erforscht hat. Das zentrale Nervensystem ist allen Einflüssen von außen offensichtlich bis einschließlich zum 4. Monat nach der Geburt vollständig schutzlos ausgeliefert, und somit auf einen geschützten, nährenden und konfliktfreien Raum angewiesen, - in der Zeit der Schwangerschaft sowie in den ersten Monaten nach der Geburt. Meine Vermutung (aufgrund eigener Erfahrung als nicht-autistische, aber 'ich-geschwächte' Person) ist die, dass dieser geschützte "Raum" wesentlich ist für die grundlegende Entwicklung eines stabilen 'Ich-Gefühls'. Im eigenen Erleben musste ich zentrale Teile meines eigenen 'Ich-Gefühls' erst rückwärts entdecken, und dies geschah mit intensiver Hilfe von sehr einfühlsamer und (in Bezug auf frühkindliche Entwicklung) gut geschulter Begleitung. Es gab immer die Kombination aus Schutz und Spiegelung, die zu einem rückwärts Entdecken von neuem 'Ich-Anteil' geführt hat und die Wiederentdeckung der auf einer nervlichen Ebene "eingefrorenen" Teile des Verdauungsapparates hat einen ganz zentralen Teil in dem "mich in mir selbst" wiederfinden bzw. entdecken ausgemacht.


 

M: Aber kommen wir auch darauf zurück, dass das "Ich" etwas mit Raumerfahrung zu tun hat und dieser Raum sich auf eine charakteristische Weise herstellen könnte, indem eine bedürfnisorientierte Kommunikation zwischen Kleinkind und Mutter (schon im präverbalen Alter des Kindes) stattfinden kann. Ich sprach von einer "informativen" Erfahrung dieses Raumes für das Kind, dessen Organismus von der sich zuwendenden Person die Nachricht bekommen hat, dass 'es' existiert, als etwas im Raum einzeln Existentes, das dennoch nicht vereinzelt ist, sondern sich über Signale mit anderen Menschen verbinden kann. Diese Möglichkeit der sozusagen positiven Verbindung zu anderen über Austausch von kommunikativen Signalen setzt aber eben voraus, dass diese Signale von dem Bewusstsein des empfangendes Kleinkindes so dekodiert werden können, dass sozusagen eine Stärkung des Gefühls für die eigene "positiv getrennte" Existenz gemacht werden kann (auch das schon präverbale Lernvorgänge der Kommunikation).

Können die Signale aus (sicher bisher nur spekulativ benennbaren) Gründen nicht so empfangen und dekodiert werden, dass eine solche positive Stärkung des Gefühls der Eigenexistenz möglich ist, muss sich das Bewusstsein anders orientieren, um überhaupt irgendwie lebensfähig zu werden, sich andere Informationen als Schlüsselreize für eine sozusagen "autogen" hergestellte Kommunikation mit sich selbst besorgen. Das so entstehende "Ich" kommuniziert also erstmal mit sich selbst (daher das Wort "Autist"....), - weil in der lernenden Informationsverarbeitung der Austausch von Signalen mit der kommunizierenden Außenwelt nur eingeschränkt verarbeitet und verstanden werden konnte.

 

Das "Ich" benötigt also schon in frühester (nur unbewusst erlebter) Ausprägung eine Art innere Positionsbestimmung: Hier bin "Ich", - als existierendes Etwas, das seine eigene (Positions-)-Bestimmung durch Signalaustausch mit anderen Menschen erhält. Erfolgt diese innere Positionsbestimmung aber auf Grund erwähnter Ortungsprobleme nicht an Hand von Kommunikation mit anderen Menschen, sondern durch eine Orientierung des eigenen Bewusstseins auf andere Signalträger (Außenreize von Dingen, Ordnungssysteme wie Zahlen, Töne etc.) hin, unterbleibt eben eine innere Positionsbestimmung, die sich in Bezug auf andere Menschen hin ortet. 

Natürlich bemerkt der Betroffene das Fehlen eines gelungenen Signalaustausches mit anderen Menschen, je nach Stärke der eigenen Betroffenheit, dramatisch heftig oder auch nur sehr dezent, z.B. dadurch, dass er immer wieder nicht verstanden wird, möglicherweise ausgegrenzt oder gemobbt wird. 

 

Mich interessiert aber auch die beschriebene Ersatzorientierung, welche eine eigene innere Ausrichtung hin auf Dinge und andere Signale als die der mitmenschlichen Kommunikation vornimmt, auch aus sozusagen perspektivischen Gründen. Weil diese natürlich gegenüber dem "allzu Menschlichen", welches ja oft auch ein Gefangensein in den immer ähnlichen sich endlos wiederholenden Kommunikationsmechanismen (die ja oft genug auch "Störungen" beinhalten)  bedeutet, eine Chance bietet! Die Orientierung weg von den üblichen Kommunikationsweisen, weg auch von deren Ausrichtung auf Macht und Kontrolle, weg vom Rumeiern in neurotischen Signalwegen, kann dazu führen, zu einem Austausch zwischen Menschen zu gelangen, wo das kommunikative Interesse aneinander erstmal über Sachthemen kanalisiert wird und sozusagen über eine dort entzündete Leidenschaft dann wiederum die Brücke zum Persönlichen, Emotionalen findet. Ohne aber vorher in Mechanismen der Macht und Manipulation üblicher Kommunikationsstrategien verheddert zu werden. Das wäre sozusagen die Utopie autistischer Kommunikation. 

 

Das "Ich" repräsentiert sich ja auch in Form von - ich sage einmal Masken - die sich nicht immer kongruent zu der inneren Wirklichkeit befinden. Vielleicht ist das ein Thema, was noch interessant sein könnte hier zu beleuchten?

 

S: Ich kann vor meinem persönlichen Hintergrund sagen, dass mich dieses Phänomen schon immer irgendwie irritiert hat, ohne dass ich wirklich verstanden habe, was dabei genau der Punkt ist. Es war eher die theoretische Diskussion, die ich verwirrend fand. "Ich" ist für mich immer (subjektiv gefühlt) ausgehend von meinem inneren Erleben gewesen. Wenn ich mich dann in Kontexten sozial verhalten habe (weil ich es musste) habe ich sicherlich deutlich auch Diskrepanz wahrnehmen können zwischen meinem inneren Befinden und dem was ich nach außen darstelle, und insofern kann ich die Bezeichnung Maske verstehen. Jedoch war die Maske für mich nichts Eigenständiges, und eventuell noch nicht einmal etwas erlebt Wichtiges. Sondern das Erleben war immer an die innere Perspektive gekoppelt, und die war wichtig für mich.

 

M: Als Autist orientiere ich mich zunächst im Außen, lieber an Dingen als an Menschen. In diesen Dingen (z.B. Musik oder Zahlenspiele oder Lichtphänomene) finde ich sozusagen meinen Geist, meine geistige Orientierung, wieder. Das Außen ist die Projektionsfläche, anhand derer ich meine Identität bilde: wie gesagt Phänomene, zu denen in der Regel nicht andere Menschen gehören, zunächst einmal jedenfalls!
Insofern ist der Autist nicht jemand, der projiziert, seine Wünsche oder Sehnsüchte oder seinen Ärger durch Konflikte oder Kommunikation mit anderen auslebt. Natürlich gibt es hinter seinem "Ich", das sich eben z.B an Musik orientiert, auch noch eine Befindlichkeit persönlicher Natur, das tiefere Befinden im Sinne von Traurig-Sein oder Fröhlich-Sein etc. Aber diese Befindlichkeiten mache ich als Autist weniger zu meiner 'Ich-Kommunikation' mit anderen, ich verstecke sie meistens. Was nicht heißt, dass man sie mir nicht trotzdem irgendwie anmerken kann. 

 

S: Spannend, diese zwei Perspektiven so gegenübergestellt zu sehen.

 

Menschen benutzen in sozialer Kommunikation oft so etwas wie eine Maske oder eine Rolle, die sie spielen, um das "wahre Ich", die eigentliche Befindlichkeit, zunächst einmal vor der sozialen Situation zu schützen. Für Autisten gibt es aber so eine Maske, eine Rolle, die man spielt nicht und unter anderem deswegen tun sie sich in sozialer Kommunikation so schwer.

 

S: Das spannende für mich an dieser Gegenüberstellung ist, zu verstehen, dass es diese unterschiedlichen Perspektiven gibt, und - in unserem gemeinsamen Gespräch anschließend - dass sich herausgestellt hat, dass es in der "nicht autistischen" Welt offensichtlich auch noch einmal die Unterschiedlichkeit gibt, dass manche Menschen sich mit ihren Masken sehr identifiziert und wohl fühlen und andere - so wie ich oben aus meiner Erfahrung schreibe - eher nicht damit identifiziert sind.

Die Frage, wie entsteht so eine positive Identifizierung mit dem was wir "Masken" genannt haben finde ich wichtig. Meine Einschätzung - weil ich persönlich eine Maske kenne, für die dies zutrifft - ist, dass dies die Folge von spielerischem Entdecken von Rollen ist, das in der frühen Entwicklung vermute ich dann stattfindet, wenn das Kind beginnt, sich aus der engen sicheren Beziehung zu lösen und die Welt zu entdecken. Mit dieser Welt spielerisch umgeht und dabei sicher und mit Freude/Spaß von den Bezugspersonen begleitet wird.

 

M: Das Spielen einer Rolle setzt für das "Ich" eine innere Orientierung, einen Referenzpunkt, voraus, die ein autistischer Mensch nicht in dem nötigen Maße besitzt. Um mich in eine Rolle sozusagen "von mir weg" zu bewegen, brauche ich diesen inneren Referenzpunkt, der sozusagen die Verbindung zu meinem "wahren inneren Selbst" ermöglicht, während ich mich im Rollenspiel der sozialen Kommunikation befinde. Dieser Referenzpunkt ist wirklich so etwas wie ein inneres "Morsen", eine Zeichen, das meine Orientierung in dem Konstrukt der 'Selbst-Identität' ermöglicht. Es ist zu vermuten, dass seine Herausbildung, seine Entwicklung, eben durch die oben erwähnten frühkindlichen Abgrenzungs- und Orientierungsvorgänge entsteht.

 

Hier ist aber meiner supjektiven Einschätzung nach vor Verwirrung zu warnen: Autisten sind meiner Beobachtung nach oft zu vielen Vorgängen, die Psychologen auch als "Mentalisierung" beschreiben, in der Lage. Aber nicht, weil sie andere wirklich lesen, sondern weil sie blitzschnell "desorientieren". Ihr Geist kann sich sozusagen an andere Stellen der Realität, sei es jetzt Dinge oder sei es auch Menschen, bewegen. Ich kann mich hervorragend "in andere hinein begeben", - meinen Geist in diese Person "desorientieren" - und ich fühle mich in dem Moment so, als ob ich die andere Person wäre. Das hat aber auf eine paradoxe Weise nichts damit zu tun, dass ich mich im Sinne von Kommunikation wirklich in die Rolle des anderen hineinversetze und daraus ein soziales Gespräch entwickle. Es ist "einfach" nur die Fähigkeit autistischen Geistes, sich an einen anderen Ort hin zu orientieren. 

 

 

Von vielen Autisten wird berichtet, dass sie kein wirkliches 'Ich-Gefühl' hätten. Woran wird dies bemerkt?

 

M: Zunächst beobachten wir bei Autisten, dass da etwas "anders" ist. Aber was ist da "anders" und ist das etwas, was mit einem Ich-Gefühl zu tun hat? Klar scheint nur zu sein, dass die Perspektive der Wahrnehmung eine andere ist. 'Wahrnehmung' aber hat direkt etwas mit dem Gefühl von Identität/Personalität zu tun, - viele schwierige Begriffe...

 

S: Meine Ich-geprägten Impulse gehen vorrangig von meinen Bedürfnissen aus. Wenn ich mit Klienten gearbeitet habe, habe ich häufig erlebt, dass manche Bedürfnisse gar nicht wahrgenommen oder manchmal vielleicht auch nur nicht geäußert werden. Aus meiner Perspektive (vor dem Hintergrund meiner Ausbildung) stellt die Ausgangsituation eines fehlenden Ich-Erlebens, wenn dies denn so ist (und das fände ich spannend hier näher zu diskutieren), einen wesentlichen Teil des unterschiedlichen Erlebens und Reagierens im Alltag aus, der nicht leicht zu fassen ist.

 

Aber woher kommen 'Ich-Impulse' und wie unterscheiden sich Impulse, die von einem 'Ich-Erleben' gesteuert sind von Impulsen, die ohne dieses klare 'Ich-Erleben' gesteuert sind?

 

S: Meine Einschätzung an dieser Stelle ist, dass Impulse IMMER von einem Bedürfnis herrühren (bzw. instinktivem Drang), weil durch sie auf ganz grundlegender Ebene das eigene Überleben gesichert wird und sie zunächst auch genau diese Funktion haben. Wenn es jedoch (noch) kein 'Ich-Erleben' gibt, dann sind die Impulse, die zu beobachten sind und die sich vermutlich vollständig ohne bewusste Steuerung umsetzen, eventuell die Fährte auf der man zu dem bereits existierenden "Ich" finden könnte. Welches jedoch wahrscheinlich nur wenig bis kaum/gar nicht entwickelt ist. Und dann wäre die Frage, wie und was fördert diese Entwicklung.

 

M: Ein Impuls hin zu etwas, also: etwas zu wollen oder nicht zu wollen, setzt ja voraus, dass vorher auf der Ebene der Wahrnehmung etwas "funktioniert" hat, was zu diesem Impuls führt. Ich fürchte, dass (hier spreche ich aus eigener Betroffenheit), da bei Autisten so Einiges zumindest ganz anders "funktioniert" hat und dieses Andere wiederum dazu führt, dass wir es hier nicht mit den "normalen" Impulsen des Wollens und der Bedürfnisbefriedigung zu tun haben. Weil solche normalen Impulse voraussetzen würden, dass auf einer sehr frühen Ebene eine Informationsverarbeitung stattfinden konnte, die die Wahrnehmung dazu führt, zu wissen, was ein 'EIGENES BEDÜRFNIS' im Sinne dessen, was als "normal" gilt, ist.

 

S: Kannst du Beispiele geben für Impulse, so wie du sie aus autistischer Perspektive wahrnimmst?

 

M: Ich glaube, dass mit entscheidend an autistischer Wahrnehmung (so wie ich sie jedenfalls erlebe) ein Impuls des 'spezifischen Abwendens', des 'Wegdrehens' der Wahrnehmung ist, einer eigenen Wahrnehmung, die vermutlich auf ganz früher Stelle überfordert war oder jedenfalls nicht in der Lage, Informationen so zu verarbeiten, dass ein einfaches 'Hinwenden zu' möglich wäre. Daraus resultieren dann Impulse des "Handelns" oder "Wollens", die sich von der überfordernden Umwelt abwenden. Ich glaube nicht, dass das bereits Ich-Impulse sind, sondern es sind Schutz-Impulse vor Überflutung.

 

S: Das finde ich sehr spannend. Denn das kann ich wiederfinden in meinen Beobachtungen und ich würde sagen, dass genau diese Schutzimpulse auch 'Ich-Impulse' sind, weil sie ein "Ich" schützen, was vermutlich nicht als "Ich" erlebt wird, weil es noch viel zu wenig ausgeprägt und entwickelt ist.

Und ein noch etwas ergänzender Gedanke an dieser Stelle: es macht unter Umständen auch Sinn bei Bedürfnissen eine Unterscheidung zwischen instinktgetriebenen Bedürfnissen und weiter entwickelten Bedürfnissen (hierfür habe ich gerade keinen Namen) zu unterscheiden. Die instinkt-getriebenen Bedürfnisse sind immer mit der direkten Überlebenssicherung verknüpft. Es gibt aber auch andere Bedürfnisse, wie zum Beispiel einen Spaziergang am Meer machen zu wollen, um ihn und die Natur zu genießen oder sich Bewegung zu verschaffen oder ein Eis essen zu wollen. Diese Bedürfnisse sind weniger instinkt-getrieben, sondern eher mit meinem persönlichen Wohlbefinden verknüpft und von Emotionen angetrieben. Und für diese Art von Bedürfnissen braucht es vermutlich ein 'mehr' an 'Ich-Identität' als für rein instinktive Bedürfnisse, die biologisch in uns angelegt sind.

 

Aber was könnte eine (reife) 'Ich-Identität' ausmachen? Was ist ein "Ich"?

 

M: Ich vermute, ein "Ich" bildet sich, neben dem Erleben einer realen Bedürfnisbefriedigung, welches dann wiederum zu einem 'Wollen' weiterer Bedürfnisbefriedigung führt, auch dadurch heraus, dass schon zu einem frühen Zeitpunkt (den wir später diskutieren müssen), so etwas wie ein natürliches Grenzgefühl zur Mutter entwickelt wird. Das Kleinkind beginnt zu registrieren, dass der eigene Erlebensraum von dem der Mutter unterschieden ist und das gerade durch diese Unterscheidung eine 'ich-gesteuerte' Bedürfnisbefriedigung möglich wird. Dieses Gefühl des unterschiedenen Raumes setzt schon vor dem Spracherwerb ein (dies kann ich nur vermuten). Es ist wohl eine Art 'Instinkt', der dem neu heran wachsenden Wesen zu Teil wird, wenn diese Abgrenzung zum "Muttertier" informativ möglich ist.

 

S: Was meinst du mit informativ möglich?  Und – hier bin ich keine Spezialistin, sondern verfüge nur über laienhafte Information: die Phase der Abgrenzung im Sinne von Erleben, dass man getrennt von der Mutter existiert, findet (m.E.) sicher weit vor der Sprachentwicklung statt .

 

Meine momentane Einschätzung zu dem Punkt ist, dass es so etwas wie eine 'Kern-Identität' gibt, die zunächst überhaupt eine 'Ich-Wahr-nehmung' ermöglicht. (Dies lässt sich wiederfinden in der Davis-Theorie). Diese Kernidentität entwickelt sich früh und ist für eine erfolgreiche Entwicklung auf das aller Empfindlichste auf Schutz angewiesen, um sich überhaupt bilden zu können und extrem störanfällig. Ist sie entwickelt, dann folgen daraus klar erlebte 'Ich-Impulse', die die Entwicklung einer Identität weiter anhand von Bedürfnissen vorantreiben, durch die verschiedenen Phasen der kindlichen Entwicklung hindurch.

 

M: Wobei klar zu sein scheint, dass es unterschiedlichste Formen der Entwicklungsstörung personaler Identität geben kann. Sie führen zu narzisstischen Symptomen, Depressionen, Essstörungen, Zwangs-handlungen etc..

 

Mir wäre es demgegenüber wichtig darauf hinzuarbeiten, dass Autismus "...eigentlich nur eine andere neuronale Kultur ist", wie sich Esther Schramm in ihrem Beitrag auf Deutschlandradio ausdrückt. Mit anderen Worten: der Begriff der "Ich-Störung" wäre meines Erachtens mit großer Vorsicht zu gebrauchen. Es scheint sich um so etwas wie eine abweichende personale Verfasstheit zu handeln, wo das "Ich" sozusagen "anders unterwegs" ist, seine Orientierungspunkte in Raum und Zeit anders "aushandelt", als das der (vermeintlich) normale Mensch macht.

 

S: Dem würde ich mich vollständig anschließen! Das Interview gefällt mir ausgesprochen gut, und hier werden deutliche, klare Ich-Bedürfnisse formuliert und vertreten aus einem Verständnis für die eigene Person heraus, wie man gestrickt ist und was einem gut tut. Heißt dies eventuell auch, je mehr ich in dem inneren Anpassungskonflikt gefangen bin, zu versuchen, so zu sein, wie ich denke, dass meine Umgebung dies verlangt, weil ich denke, dass dies notwendig ist – aus einem falschen oder ungenügenden oder fehlenden 'Ich-Verstehen' heraus, desto weniger finde ich einen klaren Zugang und als Folge auch keinen Ausdruck meiner Bedürfnisse? In dem Moment, wenn das 'Ich-Verstehen' sich so, wie nach der Diagnosestellung (höre dazu Esther Schramms Beschreibung...) einstellt und zu mehr Selbstvertrauen führt, ist es mir möglich, klarer meine Bedürfnisse zu identifizieren und dann auch zu äußern/umzusetzen.

 

Was ich an dieser Stelle (der Ausprägung von 'Ich-Identität') auch spannend finde, ist die Arbeit von Peter Levine, der – soweit ich informiert bin - sich wiederum auf die Arbeit von Stephen Porges bezieht und die Entwicklung des zentralen Nervensystems mit der Entwicklung der Fähigkeit in Erregung und wieder in Beruhigung zu kommen in Bezug auf Trauma und Traumaheilung intensiv erforscht hat. Das zentrale Nervensystem ist allen Einflüssen von außen offensichtlich bis einschließlich zum 4. Monat nach der Geburt vollständig schutzlos ausgeliefert, und somit auf einen geschützten, nährenden und konfliktfreien Raum angewiesen, - in der Zeit der Schwangerschaft sowie in den ersten Monaten nach der Geburt. Meine Vermutung (aufgrund eigener Erfahrung als nicht-autistische, aber 'ich-geschwächte' Person) ist die, dass dieser geschützte "Raum" wesentlich ist für die grundlegende Entwicklung eines stabilen 'Ich-Gefühls'. Im eigenen Erleben musste ich zentrale Teile meines eigenen 'Ich-Gefühls' erst rückwärts entdecken, und dies geschah mit intensiver Hilfe von sehr einfühlsamer und (in Bezug auf frühkindliche Entwicklung) gut geschulter Begleitung. Es gab immer die Kombination aus Schutz und Spiegelung, die zu einem rückwärts Entdecken von neuem 'Ich-Anteil' geführt hat und die Wiederentdeckung der auf einer nervlichen Ebene "eingefrorenen" Teile des Verdauungsapparates hat einen ganz zentralen Teil in dem "mich in mir selbst" wiederfinden bzw. entdecken ausgemacht.


 

M: Aber kommen wir auch darauf zurück, dass das "Ich" etwas mit Raumerfahrung zu tun hat und dieser Raum sich auf eine charakteristische Weise herstellen könnte, indem eine bedürfnisorientierte Kommunikation zwischen Kleinkind und Mutter (schon im präverbalen Alter des Kindes) stattfinden kann. Ich sprach von einer "informativen" Erfahrung dieses Raumes für das Kind, dessen Organismus von der sich zuwendenden Person die Nachricht bekommen hat, dass 'es' existiert, als etwas im Raum einzeln Existentes, das dennoch nicht vereinzelt ist, sondern sich über Signale mit anderen Menschen verbinden kann. Diese Möglichkeit der sozusagen positiven Verbindung zu anderen über Austausch von kommunikativen Signalen setzt aber eben voraus, dass diese Signale von dem Bewusstsein des empfangendes Kleinkindes so dekodiert werden können, dass sozusagen eine Stärkung des Gefühls für die eigene "positiv getrennte" Existenz gemacht werden kann (auch das schon präverbale Lernvorgänge der Kommunikation).

Können die Signale aus (sicher bisher nur spekulativ benennbaren) Gründen nicht so empfangen und dekodiert werden, dass eine solche positive Stärkung des Gefühls der Eigenexistenz möglich ist, muss sich das Bewusstsein anders orientieren, um überhaupt irgendwie lebensfähig zu werden, sich andere Informationen als Schlüsselreize für eine sozusagen "autogen" hergestellte Kommunikation mit sich selbst besorgen. Das so entstehende "Ich" kommuniziert also erstmal mit sich selbst (daher das Wort "Autist"....), - weil in der lernenden Informationsverarbeitung der Austausch von Signalen mit der kommunizierenden Außenwelt nur eingeschränkt verarbeitet und verstanden werden konnte.

 

Das "Ich" benötigt also schon in frühester (nur unbewusst erlebter) Ausprägung eine Art innere Positionsbestimmung: Hier bin "Ich", - als existierendes Etwas, das seine eigene (Positions-)-Bestimmung durch Signalaustausch mit anderen Menschen erhält. Erfolgt diese innere Positionsbestimmung aber auf Grund erwähnter Ortungsprobleme nicht an Hand von Kommunikation mit anderen Menschen, sondern durch eine Orientierung des eigenen Bewusstseins auf andere Signalträger (Außenreize von Dingen, Ordnungssysteme wie Zahlen, Töne etc.) hin, unterbleibt eben eine innere Positionsbestimmung, die sich in Bezug auf andere Menschen hin ortet. 

Natürlich bemerkt der Betroffene das Fehlen eines gelungenen Signalaustausches mit anderen Menschen, je nach Stärke der eigenen Betroffenheit, dramatisch heftig oder auch nur sehr dezent, z.B. dadurch, dass er immer wieder nicht verstanden wird, möglicherweise ausgegrenzt oder gemobbt wird. 

 

Mich interessiert aber auch die beschriebene Ersatzorientierung, welche eine eigene innere Ausrichtung hin auf Dinge und andere Signale als die der mitmenschlichen Kommunikation vornimmt, auch aus sozusagen perspektivischen Gründen. Weil diese natürlich gegenüber dem "allzu Menschlichen", welches ja oft auch ein Gefangensein in den immer ähnlichen sich endlos wiederholenden Kommunikationsmechanismen (die ja oft genug auch "Störungen" beinhalten)  bedeutet, eine Chance bietet! Die Orientierung weg von den üblichen Kommunikationsweisen, weg auch von deren Ausrichtung auf Macht und Kontrolle, weg vom Rumeiern in neurotischen Signalwegen, kann dazu führen, zu einem Austausch zwischen Menschen zu gelangen, wo das kommunikative Interesse aneinander erstmal über Sachthemen kanalisiert wird und sozusagen über eine dort entzündete Leidenschaft dann wiederum die Brücke zum Persönlichen, Emotionalen findet. Ohne aber vorher in Mechanismen der Macht und Manipulation üblicher Kommunikationsstrategien verheddert zu werden. Das wäre sozusagen die Utopie autistischer Kommunikation. 

 

Das "Ich" repräsentiert sich ja auch in Form von - ich sage einmal Masken - die sich nicht immer kongruent zu der inneren Wirklichkeit befinden. Vielleicht ist das ein Thema, was noch interessant sein könnte hier zu beleuchten?

 

S: Ich kann vor meinem persönlichen Hintergrund sagen, dass mich dieses Phänomen schon immer irgendwie irritiert hat, ohne dass ich wirklich verstanden habe, was dabei genau der Punkt ist. Es war eher die theoretische Diskussion, die ich verwirrend fand. "Ich" ist für mich immer (subjektiv gefühlt) ausgehend von meinem inneren Erleben gewesen. Wenn ich mich dann in Kontexten sozial verhalten habe (weil ich es musste) habe ich sicherlich deutlich auch Diskrepanz wahrnehmen können zwischen meinem inneren Befinden und dem was ich nach außen darstelle, und insofern kann ich die Bezeichnung Maske verstehen. Jedoch war die Maske für mich nichts Eigenständiges, und eventuell noch nicht einmal etwas erlebt Wichtiges. Sondern das Erleben war immer an die innere Perspektive gekoppelt, und die war wichtig für mich.

 

M: Als Autist orientiere ich mich zunächst im Außen, lieber an Dingen als an Menschen. In diesen Dingen (z.B. Musik oder Zahlenspiele oder Lichtphänomene) finde ich sozusagen meinen Geist, meine geistige Orientierung, wieder. Das Außen ist die Projektionsfläche, anhand derer ich meine Identität bilde: wie gesagt Phänomene, zu denen in der Regel nicht andere Menschen gehören, zunächst einmal jedenfalls!
Insofern ist der Autist nicht jemand, der projiziert, seine Wünsche oder Sehnsüchte oder seinen Ärger durch Konflikte oder Kommunikation mit anderen auslebt. Natürlich gibt es hinter seinem "Ich", das sich eben z.B an Musik orientiert, auch noch eine Befindlichkeit persönlicher Natur, das tiefere Befinden im Sinne von Traurig-Sein oder Fröhlich-Sein etc. Aber diese Befindlichkeiten mache ich als Autist weniger zu meiner 'Ich-Kommunikation' mit anderen, ich verstecke sie meistens. Was nicht heißt, dass man sie mir nicht trotzdem irgendwie anmerken kann. 

 

S: Spannend, diese zwei Perspektiven so gegenübergestellt zu sehen.

 

Menschen benutzen in sozialer Kommunikation oft so etwas wie eine Maske oder eine Rolle, die sie spielen, um das "wahre Ich", die eigentliche Befindlichkeit, zunächst einmal vor der sozialen Situation zu schützen. Für Autisten gibt es aber so eine Maske, eine Rolle, die man spielt nicht und unter anderem deswegen tun sie sich in sozialer Kommunikation so schwer.

 

S: Das spannende für mich an dieser Gegenüberstellung ist, zu verstehen, dass es diese unterschiedlichen Perspektiven gibt, und - in unserem gemeinsamen Gespräch anschließend - dass sich herausgestellt hat, dass es in der "nicht autistischen" Welt offensichtlich auch noch einmal die Unterschiedlichkeit gibt, dass manche Menschen sich mit ihren Masken sehr identifiziert und wohl fühlen und andere - so wie ich oben aus meiner Erfahrung schreibe - eher nicht damit identifiziert sind.

Die Frage, wie entsteht so eine positive Identifizierung mit dem was wir "Masken" genannt haben finde ich wichtig. Meine Einschätzung - weil ich persönlich eine Maske kenne, für die dies zutrifft - ist, dass dies die Folge von spielerischem Entdecken von Rollen ist, das in der frühen Entwicklung vermute ich dann stattfindet, wenn das Kind beginnt, sich aus der engen sicheren Beziehung zu lösen und die Welt zu entdecken. Mit dieser Welt spielerisch umgeht und dabei sicher und mit Freude/Spaß von den Bezugspersonen begleitet wird.

 

M: Das Spielen einer Rolle setzt für das "Ich" eine innere Orientierung, einen Referenzpunkt, voraus, die ein autistischer Mensch nicht in dem nötigen Maße besitzt. Um mich in eine Rolle sozusagen "von mir weg" zu bewegen, brauche ich diesen inneren Referenzpunkt, der sozusagen die Verbindung zu meinem "wahren inneren Selbst" ermöglicht, während ich mich im Rollenspiel der sozialen Kommunikation befinde. Dieser Referenzpunkt ist wirklich so etwas wie ein inneres "Morsen", eine Zeichen, das meine Orientierung in dem Konstrukt der 'Selbst-Identität' ermöglicht. Es ist zu vermuten, dass seine Herausbildung, seine Entwicklung, eben durch die oben erwähnten frühkindlichen Abgrenzungs- und Orientierungsvorgänge entsteht.

 

Hier ist aber meiner supjektiven Einschätzung nach vor Verwirrung zu warnen: Autisten sind meiner Beobachtung nach oft zu vielen Vorgängen, die Psychologen auch als "Mentalisierung" beschreiben, in der Lage. Aber nicht, weil sie andere wirklich lesen, sondern weil sie blitzschnell "desorientieren". Ihr Geist kann sich sozusagen an andere Stellen der Realität, sei es jetzt Dinge oder sei es auch Menschen, bewegen. Ich kann mich hervorragend "in andere hinein begeben", - meinen Geist in diese Person "desorientieren" - und ich fühle mich in dem Moment so, als ob ich die andere Person wäre. Das hat aber auf eine paradoxe Weise nichts damit zu tun, dass ich mich im Sinne von Kommunikation wirklich in die Rolle des anderen hineinversetze und daraus ein soziales Gespräch entwickle. Es ist "einfach" nur die Fähigkeit autistischen Geistes, sich an einen anderen Ort hin zu orientieren. 

 

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Autismus, Begabung und Lernen

Die besondere Fähigkeit umfassenden 'In-Beziehung-Seins' und das 'Immer-Schon-Da' eines teilhabenden Bewusstseinsstroms, der zu diesem 'In-Beziehung-Sein' führt.

 

Neulich sagte ein Schüler zu mir: "Die Dinge, die ich kann, kann ich sofort." Er zweifelte  den zeitlichen Vorgang des Lernens an (eine häufige Erfahrung mit ADHS-veranlagten Menschen). Entweder, so seine Wahrnehmung, ist alles sofort klar oder es ist eben als 'Lernbares' sozusagen nicht existent. 

 

Ich stelle hier nun eine vielleicht etwas provokante These auf: Der Junge hat in großen Teilen durchaus Recht. Und autistische Fähigkeiten wie sie in singulären Fällen durch die sogenannten "Savants" oder auch "Idiots Savants" bekannt sind, könnten die Ansicht des Jungen zumindest teilweise stützen. Lernen kann so schnell erfolgen, dass es sich eher als eine Art schlagartig vorhandenes Wissen offenbart - durch 'wissende Erkenntnisse', welche sich in Form innerer Bilder mitteilen, deren Erscheinen so schnell erfolgt, dass man von einem normalen zeitlichen Lernverlauf gar nicht mehr sprechen kann. Es handelt sich dann wohl eher um so etwas wie "unmittelbare innere Erkenntnisse". 

 

Schon das Wort 'Erkenntnis' weist in seiner sprachlichen Logik (die Endung -is bezeichnet einen zeitlichen Vorgang, der bereits stattgefunden hat) auf etwas hin, das vorher noch nicht gekannt wurde. Das allerdings könnte man hinterfragen. Vielleicht ist das menschliche Bewusstsein über bestimmte Strukturen dermaßen mit der Außenwelt verflochten, dass es eigentlich nur darum geht, diese Verwebung dem Geist zugänglich zu machen und im richtigen Kontext wahrzunehmen, in dem die Filter, die eine Wahrnehmung dessen verhindern, durchlässig oder durchlässiger gemacht werden. Vermutlich wurden sie von der Natur als notwendiger Schutz vor Überfrachtung und Überflutung mit Information wie ein evolutionärer Damm aufgebaut. Schließlich brauchte der Mensch erst einmal auch die Fähigkeit, sich in einer 'Realzeit' zu orientieren und dort langsam Wahrnehmungen zu integrieren, um in den Prozess einer zeitlich sich vollziehenden Evolution vorsichtig mit einsteigen zu können. Aber vielleicht ist in dieser Evolution bald ein Zeitpunkt gekommen, wo der menschliche Geist auch dazu fähig ist, seine eigene Einschränkung durch die Zeit zu überwinden, indem er sich selbst und seine bereits vorhandenen Fähigkeiten, alles auf eine sehr spezifische Weise schon zu wissen, wirklich erkennt. 

 

Lernen wäre demnach auch ein Prozess sich ständig vervollkommnender Selbsterkenntnis. Der Geist bildet seine eigene Natur nicht mehr nur dadurch ab, dass er die Außenwelt beschreibt und verstehend analysiert, sondern er liefert vielmehr multiperspektivische Emergenzen, also Phänomene, die aus seiner eigenen Verwebung mit den Dingen, die er betrachtet, entstehen. Nichts anderes ist ja nebenbei gesagt auch Kunst: ein 'Mehr' entsteht daraus, dass der Geist offenbar mehr ist, als bloße Natur. 

 

Was aber würde das bedeuten in Bezug auf das Lernen z.B von einer Sprache oder eines Musikstückes? 

 

Ich denke, es würde bedeuten, dass der Lernende in der Lage ist, sein eigenes Bewusstsein als Teil des zu lernenden Systems (Sprache, Musik, Mathematik...) wahrzunehmen und in dieser Wahrnehmung das 'Verstehen' anders zu steuern. Dieses 'teilnehmende Verständnis' eines noch "unbekannten" Äußeren würde dann vermutlich durch eine Art bildhafter Übersetzung, deren Ablaufmöglichkeit von der "Befreiung" der Filterblockaden unterstützt wäre, erfolgen. Ein Beispiel: Ich erlebe ein Präludium von Bach nicht mehr als verwirrende Überflutung schwer zu memorierender Tonkaskaden, sondern ich kann das Zusammenwirken des tonalen Systems nun als ein mehrdimensionales Bild in mir wahrnehmen und es sogar sukzessive abrufen. Oder am Beispiel Sprache: Ich erlebe die Syntax und die Flut an neuen Vokabeln einer fremden Sprache nicht mehr als Kauderwelsch, das ich mir mühsamst aufschlüsseln muss, sondern ich erfasse das "musikalische" Gesamtsystem der Laute und ihre grammatikalischen Varianten auf eine Art und Weise, in der mir das Gesamtsystem 'Sprache' wie ein Gebäude mit zahlreichen Räumen und Nischen, Stockwerken und Türen unmittelbar zugänglich und verstehbar wird. 

 

Es würde sich also um einen Vorgang mehrdimensionaler Verbildlichung handeln, durch den die sukzessiv-zeitliche Langsamkeit der sozusagen horizontal ablaufenden Erkenntnis   abgelöst wird durch die Gleichzeitigkeit vieldimensionaler Wahrnehmungs- und Denkvorgänge. Einer Gesamtwahrnehmung, die sich auch dadurch auszeichnet, dass sie eine Verbindung zwischen akustischen Vorgängen (als horizontal-zeitliche Qualitäten) und visuellen Vorgängen (als vertikal-räumlich-zeitliche Qualitäten) herzustellen in der Lage ist. Dies kann auch so geschehen, dass eine rein abstrakte Zahlen-Qualität in eine wie auch immer ablaufende zeitlich-räumliche Qualität transformiert wird. 

 

Die autistischen Fähigkeiten, welche sich oft genug als Fähigkeiten zur rein bildhaften und multiperspektivischen Wahrnehmungsverarbeitung erweisen, könnten hier m.E. durchaus eine Art Evolutionssprung markieren - einen qualitativen Sprung in den geistigen Fähigkeiten der Menschen, sowohl linear-logisch und ableitend zu denken, als auch sprunghaft-bildhaft Wahrnehmungs- und Denkräume zu erschließen, die die (falsch verstandene) Eindimensionalität logischen Denkens mehrdimensional erweitern.

 

Nichts anderes ist doch Kreativität, mag man an dieser Stelle einwenden und dies alles ist ganz normal und Jahrtausende alt. Ich denke, das ist es auch. Allerdings hat unsere Zivilisation seit dem Zeitalter des Rationalismus die bildhaften Fähigkeiten eher den Künstlern zugesprochen und das Gebiet des Lernens dem Joch der Eindimensionalität unterworfen. Heute zeigen uns schon die neuen Bild-Techniken der Computer-Software in vielen Bereichen, dass möglicherweise ganz andere Zeiten des Auffassens und Lernens längst begonnen haben. 

Michels Monolog

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Dialog über Sprache (1)

M: Heute morgen habe ich mich gefragt, warum Menschen überhaupt Sprache erfunden haben. Warum sind sie nicht 'Tiere' geblieben und haben wie diese kommuniziert? Einfach weil ihnen die Evolution "zufällig" bessere Lautwerkzeuge, also eine komplexere Artikulationsmuskulatur, geschenkt hat? Warum entstand das Bedürfnis, 'Dinge' durch Laute zu benennen? Bienen zum Beispiel kommunzieren über Tänze und teilen sich so mit, wo gute Blütengebiete zu orten sind. Aber schon hier sind wir an einem entscheidenden Punkt: Kommunikation scheint der Orientierung im Raum zu dienen. Welches Mittel (Laute oder Tänze oder Geruchsinformationen oder visuelle Reize) dabei verwendet wird, ist wahrscheinlich (erstmal) nicht so entscheidend. Allerdings gibt es wohl bei der Zuordnung von Information zu bestimmten Lauten die Möglichkeit der Vieldeutigkeit. Ich kann die Nachricht von einer Wasserstelle (ich denke jetzt gerade an unsere nomadisierenden Vorfahren) mit einem bestimmten Laut verbinden und diese Zuordnung sollte eindeutig sein, da sonst unnötige Energie und Gefahr entsteht. Gleichzeitig scheinen Menschen irgendwann entdeckt zu haben, dass die Willkürlichkeit der Zuordnung von Laut zum Ding auch andere Möglichkeiten der Kommunikation entstehen lassen, z.B. kann einer den anderen mit einer Information bewusst in die Irre führen, um sich selbst einen Vorteil zu verschaffen. 

 

S: Ich find es wichtig (und spannend) erst einmal festzuhalten, dass Kommunikation nicht gleich Sprache ist, sondern Sprache eine spezielle Form der Kommunikation ist und damit eine unter anderen Kommunikationsformen. Allein an diesem Punkt ist es vielleicht schon ein gravierender Perspektivwechsel, wenn man sich (immer wieder) klar macht, dass 'Nicht-Sprechen' eben nicht 'Nicht-Kommunizieren' ist. Und die Frage ist, mit welcher Art der Kommunikation kommuniziert es sich vielleicht leichter als mit Sprache? 

 

Hierzu lese ich in der Davis-Arbeit und auch in dem Buch von Iris Johansson interessante Informationen, die deutlich machen, dass VOR der sprachlichen Kommunikation die Kommunikation auf einer ganz anderen Ebene erfolgt. Und es genau diese Ebene zu sein scheint, die es einer autistischen Person erlaubt, erfolgreich in die Gesellschaft einer anderen Person einzutreten und als weiteren Schritt dann auch Kommunikation auf der Ebene von Gesten oder Sprache aufzunehmen.

 

M: Ein spannender Punkt: Sprache hat als Kommunikationsmittel nicht nur mit präziser Informationsübertragung zu tun, sondern auch mit der Möglichkeit von Verwirrung und Unverständnis. Diese multible Möglichkeit erschwert für Autisten, die sich unter zu viel Andrang von Information in ihre eigenen Welt zurückziehen, das Verständnis. Deswegen sind ihnen non-verbale, gestische, körpersprachliche oder ganz andere Formen des Kommunizierens womöglich besser zugänglich. 

 

S: Sprache kommuniziert über Inhalte. Inhalte werden in Form von multisensorischen Inhalten (lt Davis) im bildhaften Denken erfasst und verarbeitet. Dieses multisensorische Bild ist sprachunabhängig und daher auch nicht an Sprache gebunden. Das heißt, dass z.B. auch allein ein Gefühl, dass ich empfinde, ebenfalls ein Inhalt ist, der sich kommuniziert, ohne dass Worte hierfür notwendig sind.

Diese Davis-Perspektive findet sich in vielen Passagen in dem Buch von I. Johansson wieder, zum Beispiel, wenn sei beschreibt, wie ihr Vater ihr allein mittels gedachter Bilder ohne Worte mitteilt, sich anzuziehen. Ein Procedere, dass ihr ansonsten Panik verursachte und ein Ding der Unmöglichkeit für sie war. Mit Hilfe der bildhaften vollständig druckfreien Kommunikation des Vaters ohne jegliche Worte, finden die einzelnen Kleidungsstücke einen Weg in ihr Bewusstsein und von dort dann auch an ihren Körper.

 

M: Sprache im mehrdimensionalem Raum der Kommunikation scheint für Autisten auch deswegen ein schwieriger Vorgang zu sein, weil der Raum ihrer eigenen Wahrnehmung mit ganz vielen Signalen und potentiellen Bedeutungsträgern gefüllt ist, die ihnen zur inneren Orientierung dienen. Die aber nicht unbedingt mit der jeweiligen realen kommunikativen Situation, die entsteht, wenn ein anderer Mensch in diesen Wahrnehmungsraum eintritt, etwas zu tun haben. Was hat der einfallende Lichtstrahl durchs Fenster damit zu tun, dass mich gerade jemand fragt, ob ich etwas essen will? Erstmal rein gar nichts. Diese gestellte Frage setzt voraus, dass sich die multisensorische Orientierung des Bewusstseins millisekundenschnell zu präzisen und in der momentanen Situation neu entstehenden Orientierunspunkten bewegen muss, um adäquat antworten zu können. Und schon der zentrale Punkt, nämlich: "Habe ich gerade Hunger?" als einfacher und natürlicher Punkt der Innenfrage an mich selbst, setzt, um im Außen antworten zu können, voraus, dass ich mich zu diesem inneren 'Bedürfnispunkt' hinbewegen können muss, ihn als solchen kennengelernt haben muss. Und zwar als solchen, der mich befähigt, ihn als 'kommunikativen Bedürfnispunkt' zu erleben, der eine entscheidende Relevanz in meiner eigenen Orientierung hin zu kommunikativen Situationen mit anderen Menschen inne hat. Wohl kennt ein autistischer Mensch das "Innengefühl" von "ich habe Hunger". Aber er hat nicht gelernt, dass es gut sein kann, diesen Zustand außer mit sich selbst auch mit einem anderen Menschen über bestimmte gesprochene Lautäußerungen zu kommunizieren. Er würde vermutlich eher selbst auf die Suche nach etwas Essbarem gehen, als sich darin an eine andere Person zu wenden. Oder er würde davon ausgehen, dass andere Personen diesen Zustand des Hungers auch anders kommunizieren können müssen, außer über völlig willkürliche Lautsysteme. 

 

S: “Kommunikation dient der Orientierung im Raum” sagst du. Das ist wieder eine interessante Aussage, über die ich erst einmal noch etwas mehr nachdenken muss. Mir wäre dieser Gedanke so gar nicht gekommen, aber ja! Ich kann ihn nachvollziehen. Dass es nicht ausreicht ein Objekt zu sehen und zu bezeichnen. Dies allein gibt noch keinen Kommunikationsimpuls. Sondern mein oder jemandes Verhältnis zu diesem Objekt löst einen Kommunikationsimpuls schon viel eher aus.

Da wird es mir dann deutlich, dass hier 2 Welten im Alltag aufeinanderstoßen können. Wenn man sich als Autist in einem natürlichen Desorientierungszustand befindet, heißt, ich bin überall und nirgends, mit Objekten oder anderen Sinneseindrücken meiner Wahl verbunden und beschäftigt, dann existiere ich in einem anderen Raum-Zeit-Gefüge, als ich dies tue, wenn ich in einem kommunikativen Zustand bin, den ich (nach Davis) "orientierten Zustand" nenne. Für diesen Prozess begebe ich mich an einen einzigen Ort, der mit der Position meines Körpers übereinstimmt und stehe damit in einem anderen Verhältnis zu den Dingen, die mich umgeben. Allein diese 2 unterschiedlichen Ausgangspunkte können in sich schon für ein Verwirrungs- und auch Schreckpotential sorgen, wenn eine autistische Person angesprochen wird – ohne bereits in einem sogenannten orientierten Zustand zu sein.

 

M: Die Frage wäre also dann, ob es auf der therapeutischen Ebene nicht sehr sinnvoll sein kann, die non-verbalen Formen der Kommunikation, wie zum Beispiel Körpersprache, Blicke, Gesten, bewusst einzusetzen und zu trainieren. Denn diese Formen sind allemal schneller da, als die Transformationen in Sprache. 

Auch haben Autisten ja ein sehr eigenes Körpergefühl, oft ungelenke und tapsige Bewegungen, die aus dem Zustand der Desorientierung folgen. Mit diesen in eine kreative Ebene des Ausdrucks zu kommen, in ein Körpergefühl zu gelangen, was erst mal zu mehr Grundentspannung führt, wäre meines Erachtens ein erster Schritt, bevor Sprache überhaupt ein produktives Medium des Austausches werden kann. 

 

S: Sprache allein im Sinne von Sprechen mit Lauten macht eben noch keine gelungene Kommunikation aus. Der nonverbale Anteil von Kommunikation ist ein ebenfalls weites und komplexes Feld, so dass ich gerne in einem weiteren Dialog speziell diesen Aspekt noch weiter beleuchten würde. 

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Dialog über das "Ich"-Gefühl

 

Von vielen Autisten wird berichtet, dass sie kein wirkliches 'Ich-Gefühl' hätten. Woran wird dies bemerkt?

 

M: Zunächst beobachten wir bei Autisten, dass da etwas "anders" ist. Aber was ist da "anders" und ist das etwas, was mit einem Ich-Gefühl zu tun hat? Klar scheint nur zu sein, dass die Perspektive der Wahrnehmung eine andere ist. 'Wahrnehmung' aber hat direkt etwas mit dem Gefühl von Identität/Personalität zu tun, - viele schwierige Begriffe...

 

S: Meine Ich-geprägten Impulse gehen vorrangig von meinen Bedürfnissen aus. Wenn ich mit Klienten gearbeitet habe, habe ich häufig erlebt, dass manche Bedürfnisse gar nicht wahrgenommen oder manchmal vielleicht auch nur nicht geäußert werden. Aus meiner Perspektive (vor dem Hintergrund meiner Ausbildung) stellt die Ausgangsituation eines fehlenden Ich-Erlebens, wenn dies denn so ist (und das fände ich spannend hier näher zu diskutieren), einen wesentlichen Teil des unterschiedlichen Erlebens und Reagierens im Alltag aus, der nicht leicht zu fassen ist.

 

Aber woher kommen 'Ich-Impulse' und wie unterscheiden sich Impulse, die von einem 'Ich-Erleben' gesteuert sind von Impulsen, die ohne dieses klare 'Ich-Erleben' gesteuert sind?

 

S: Meine Einschätzung an dieser Stelle ist, dass Impulse IMMER von einem Bedürfnis herrühren (bzw. instinktivem Drang), weil durch sie auf ganz grundlegender Ebene das eigene Überleben gesichert wird und sie zunächst auch genau diese Funktion haben. Wenn es jedoch (noch) kein 'Ich-Erleben' gibt, dann sind die Impulse, die zu beobachten sind und die sich vermutlich vollständig ohne bewusste Steuerung umsetzen, eventuell die Fährte auf der man zu dem bereits existierenden "Ich" finden könnte. Welches jedoch wahrscheinlich nur wenig bis kaum/gar nicht entwickelt ist. Und dann wäre die Frage, wie und was fördert diese Entwicklung.

 

M: Ein Impuls hin zu etwas, also: etwas zu wollen oder nicht zu wollen, setzt ja voraus, dass vorher auf der Ebene der Wahrnehmung etwas "funktioniert" hat, was zu diesem Impuls führt. Ich fürchte, dass (hier spreche ich aus eigener Betroffenheit), da bei Autisten so Einiges zumindest ganz anders "funktioniert" hat und dieses Andere wiederum dazu führt, dass wir es hier nicht mit den "normalen" Impulsen des Wollens und der Bedürfnisbefriedigung zu tun haben. Weil solche normalen Impulse voraussetzen würden, dass auf einer sehr frühen Ebene eine Informationsverarbeitung stattfinden konnte, die die Wahrnehmung dazu führt, zu wissen, was ein 'EIGENES BEDÜRFNIS' im Sinne dessen, was als "normal" gilt, ist.

 

S: Kannst du Beispiele geben für Impulse, so wie du sie aus autistischer Perspektive wahrnimmst?

 

M: Ich glaube, dass mit entscheidend an autistischer Wahrnehmung (so wie ich sie jedenfalls erlebe) ein Impuls des 'spezifischen Abwendens', des 'Wegdrehens' der Wahrnehmung ist, einer eigenen Wahrnehmung, die vermutlich auf ganz früher Stelle überfordert war oder jedenfalls nicht in der Lage, Informationen so zu verarbeiten, dass ein einfaches 'Hinwenden zu' möglich wäre. Daraus resultieren dann Impulse des "Handelns" oder "Wollens", die sich von der überfordernden Umwelt abwenden. Ich glaube nicht, dass das bereits Ich-Impulse sind, sondern es sind Schutz-Impulse vor Überflutung.

 

S: Das finde ich sehr spannend. Denn das kann ich wiederfinden in meinen Beobachtungen und ich würde sagen, dass genau diese Schutzimpulse auch 'Ich-Impulse' sind, weil sie ein "Ich" schützen, was vermutlich nicht als "Ich" erlebt wird, weil es noch viel zu wenig ausgeprägt und entwickelt ist.

Und ein noch etwas ergänzender Gedanke an dieser Stelle: es macht unter Umständen auch Sinn bei Bedürfnissen eine Unterscheidung zwischen instinktgetriebenen Bedürfnissen und weiter entwickelten Bedürfnissen (hierfür habe ich gerade keinen Namen) zu unterscheiden. Die instinkt-getriebenen Bedürfnisse sind immer mit der direkten Überlebenssicherung verknüpft. Es gibt aber auch andere Bedürfnisse, wie zum Beispiel einen Spaziergang am Meer machen zu wollen, um ihn und die Natur zu genießen oder sich Bewegung zu verschaffen oder ein Eis essen zu wollen. Diese Bedürfnisse sind weniger instinkt-getrieben, sondern eher mit meinem persönlichen Wohlbefinden verknüpft und von Emotionen angetrieben. Und für diese Art von Bedürfnissen braucht es vermutlich ein 'mehr' an 'Ich-Identität' als für rein instinktive Bedürfnisse, die biologisch in uns angelegt sind.

 

Aber was könnte eine (reife) 'Ich-Identität' ausmachen? Was ist ein "Ich"?

 

M: Ich vermute, ein "Ich" bildet sich, neben dem Erleben einer realen Bedürfnisbefriedigung, welches dann wiederum zu einem 'Wollen' weiterer Bedürfnisbefriedigung führt, auch dadurch heraus, dass schon zu einem frühen Zeitpunkt (den wir später diskutieren müssen), so etwas wie ein natürliches Grenzgefühl zur Mutter entwickelt wird. Das Kleinkind beginnt zu registrieren, dass der eigene Erlebensraum von dem der Mutter unterschieden ist und das gerade durch diese Unterscheidung eine 'ich-gesteuerte' Bedürfnisbefriedigung möglich wird. Dieses Gefühl des unterschiedenen Raumes setzt schon vor dem Spracherwerb ein (dies kann ich nur vermuten). Es ist wohl eine Art 'Instinkt', der dem neu heran wachsenden Wesen zu Teil wird, wenn diese Abgrenzung zum "Muttertier" informativ möglich ist.

 

S: Was meinst du mit informativ möglich?  Und – hier bin ich keine Spezialistin, sondern verfüge nur über laienhafte Information: die Phase der Abgrenzung im Sinne von Erleben, dass man getrennt von der Mutter existiert, findet (m.E.) sicher weit vor der Sprachentwicklung statt .

 

Meine momentane Einschätzung zu dem Punkt ist, dass es so etwas wie eine 'Kern-Identität' gibt, die zunächst überhaupt eine 'Ich-Wahr-nehmung' ermöglicht. (Dies lässt sich wiederfinden in der Davis-Theorie). Diese Kernidentität entwickelt sich früh und ist für eine erfolgreiche Entwicklung auf das aller Empfindlichste auf Schutz angewiesen, um sich überhaupt bilden zu können und extrem störanfällig. Ist sie entwickelt, dann folgen daraus klar erlebte 'Ich-Impulse', die die Entwicklung einer Identität weiter anhand von Bedürfnissen vorantreiben, durch die verschiedenen Phasen der kindlichen Entwicklung hindurch.

 

M: Wobei klar zu sein scheint, dass es unterschiedlichste Formen der Entwicklungsstörung personaler Identität geben kann. Sie führen zu narzisstischen Symptomen, Depressionen, Essstörungen, Zwangs-handlungen etc..

 

Mir wäre es demgegenüber wichtig darauf hinzuarbeiten, dass Autismus "...eigentlich nur eine andere neuronale Kultur ist", wie sich Esther Schramm in ihrem Beitrag auf Deutschlandradio ausdrückt. Mit anderen Worten: der Begriff der "Ich-Störung" wäre meines Erachtens mit großer Vorsicht zu gebrauchen. Es scheint sich um so etwas wie eine abweichende personale Verfasstheit zu handeln, wo das "Ich" sozusagen "anders unterwegs" ist, seine Orientierungspunkte in Raum und Zeit anders "aushandelt", als das der (vermeintlich) normale Mensch macht.

 

S: Dem würde ich mich vollständig anschließen! Das Interview gefällt mir ausgesprochen gut, und hier werden deutliche, klare Ich-Bedürfnisse formuliert und vertreten aus einem Verständnis für die eigene Person heraus, wie man gestrickt ist und was einem gut tut. Heißt dies eventuell auch, je mehr ich in dem inneren Anpassungskonflikt gefangen bin, zu versuchen, so zu sein, wie ich denke, dass meine Umgebung dies verlangt, weil ich denke, dass dies notwendig ist – aus einem falschen oder ungenügenden oder fehlenden 'Ich-Verstehen' heraus, desto weniger finde ich einen klaren Zugang und als Folge auch keinen Ausdruck meiner Bedürfnisse? In dem Moment, wenn das 'Ich-Verstehen' sich so, wie nach der Diagnosestellung (höre dazu Esther Schramms Beschreibung...) einstellt und zu mehr Selbstvertrauen führt, ist es mir möglich, klarer meine Bedürfnisse zu identifizieren und dann auch zu äußern/umzusetzen.

 

Was ich an dieser Stelle (der Ausprägung von 'Ich-Identität') auch spannend finde, ist die Arbeit von Peter Levine, der – soweit ich informiert bin - sich wiederum auf die Arbeit von Stephen Porges bezieht und die Entwicklung des zentralen Nervensystems mit der Entwicklung der Fähigkeit in Erregung und wieder in Beruhigung zu kommen in Bezug auf Trauma und Traumaheilung intensiv erforscht hat. Das zentrale Nervensystem ist allen Einflüssen von außen offensichtlich bis einschließlich zum 4. Monat nach der Geburt vollständig schutzlos ausgeliefert, und somit auf einen geschützten, nährenden und konfliktfreien Raum angewiesen, - in der Zeit der Schwangerschaft sowie in den ersten Monaten nach der Geburt. Meine Vermutung (aufgrund eigener Erfahrung als nicht-autistische, aber 'ich-geschwächte' Person) ist die, dass dieser geschützte "Raum" wesentlich ist für die grundlegende Entwicklung eines stabilen 'Ich-Gefühls'. Im eigenen Erleben musste ich zentrale Teile meines eigenen 'Ich-Gefühls' erst rückwärts entdecken, und dies geschah mit intensiver Hilfe von sehr einfühlsamer und (in Bezug auf frühkindliche Entwicklung) gut geschulter Begleitung. Es gab immer die Kombination aus Schutz und Spiegelung, die zu einem rückwärts Entdecken von neuem 'Ich-Anteil' geführt hat und die Wiederentdeckung der auf einer nervlichen Ebene "eingefrorenen" Teile des Verdauungsapparates hat einen ganz zentralen Teil in dem "mich in mir selbst" wiederfinden bzw. entdecken ausgemacht.


 

M: Aber kommen wir auch darauf zurück, dass das "Ich" etwas mit Raumerfahrung zu tun hat und dieser Raum sich auf eine charakteristische Weise herstellen könnte, indem eine bedürfnisorientierte Kommunikation zwischen Kleinkind und Mutter (schon im präverbalen Alter des Kindes) stattfinden kann. Ich sprach von einer "informativen" Erfahrung dieses Raumes für das Kind, dessen Organismus von der sich zuwendenden Person die Nachricht bekommen hat, dass 'es' existiert, als etwas im Raum einzeln Existentes, das dennoch nicht vereinzelt ist, sondern sich über Signale mit anderen Menschen verbinden kann. Diese Möglichkeit der sozusagen positiven Verbindung zu anderen über Austausch von kommunikativen Signalen setzt aber eben voraus, dass diese Signale von dem Bewusstsein des empfangendes Kleinkindes so dekodiert werden können, dass sozusagen eine Stärkung des Gefühls für die eigene "positiv getrennte" Existenz gemacht werden kann (auch das schon präverbale Lernvorgänge der Kommunikation).

Können die Signale aus (sicher bisher nur spekulativ benennbaren) Gründen nicht so empfangen und dekodiert werden, dass eine solche positive Stärkung des Gefühls der Eigenexistenz möglich ist, muss sich das Bewusstsein anders orientieren, um überhaupt irgendwie lebensfähig zu werden, sich andere Informationen als Schlüsselreize für eine sozusagen "autogen" hergestellte Kommunikation mit sich selbst besorgen. Das so entstehende "Ich" kommuniziert also erstmal mit sich selbst (daher das Wort "Autist"....), - weil in der lernenden Informationsverarbeitung der Austausch von Signalen mit der kommunizierenden Außenwelt nur eingeschränkt verarbeitet und verstanden werden konnte.

 

Das "Ich" benötigt also schon in frühester (nur unbewusst erlebter) Ausprägung eine Art innere Positionsbestimmung: Hier bin "Ich", - als existierendes Etwas, das seine eigene (Positions-)-Bestimmung durch Signalaustausch mit anderen Menschen erhält. Erfolgt diese innere Positionsbestimmung aber auf Grund erwähnter Ortungsprobleme nicht an Hand von Kommunikation mit anderen Menschen, sondern durch eine Orientierung des eigenen Bewusstseins auf andere Signalträger (Außenreize von Dingen, Ordnungssysteme wie Zahlen, Töne etc.) hin, unterbleibt eben eine innere Positionsbestimmung, die sich in Bezug auf andere Menschen hin ortet. 

Natürlich bemerkt der Betroffene das Fehlen eines gelungenen Signalaustausches mit anderen Menschen, je nach Stärke der eigenen Betroffenheit, dramatisch heftig oder auch nur sehr dezent, z.B. dadurch, dass er immer wieder nicht verstanden wird, möglicherweise ausgegrenzt oder gemobbt wird. 

 

Mich interessiert aber auch die beschriebene Ersatzorientierung, welche eine eigene innere Ausrichtung hin auf Dinge und andere Signale als die der mitmenschlichen Kommunikation vornimmt, auch aus sozusagen perspektivischen Gründen. Weil diese natürlich gegenüber dem "allzu Menschlichen", welches ja oft auch ein Gefangensein in den immer ähnlichen sich endlos wiederholenden Kommunikationsmechanismen (die ja oft genug auch "Störungen" beinhalten)  bedeutet, eine Chance bietet! Die Orientierung weg von den üblichen Kommunikationsweisen, weg auch von deren Ausrichtung auf Macht und Kontrolle, weg vom Rumeiern in neurotischen Signalwegen, kann dazu führen, zu einem Austausch zwischen Menschen zu gelangen, wo das kommunikative Interesse aneinander erstmal über Sachthemen kanalisiert wird und sozusagen über eine dort entzündete Leidenschaft dann wiederum die Brücke zum Persönlichen, Emotionalen findet. Ohne aber vorher in Mechanismen der Macht und Manipulation üblicher Kommunikationsstrategien verheddert zu werden. Das wäre sozusagen die Utopie autistischer Kommunikation. 

 

Das "Ich" repräsentiert sich ja auch in Form von - ich sage einmal Masken - die sich nicht immer kongruent zu der inneren Wirklichkeit befinden. Vielleicht ist das ein Thema, was noch interessant sein könnte hier zu beleuchten?

 

S: Ich kann vor meinem persönlichen Hintergrund sagen, dass mich dieses Phänomen schon immer irgendwie irritiert hat, ohne dass ich wirklich verstanden habe, was dabei genau der Punkt ist. Es war eher die theoretische Diskussion, die ich verwirrend fand. "Ich" ist für mich immer (subjektiv gefühlt) ausgehend von meinem inneren Erleben gewesen. Wenn ich mich dann in Kontexten sozial verhalten habe (weil ich es musste) habe ich sicherlich deutlich auch Diskrepanz wahrnehmen können zwischen meinem inneren Befinden und dem was ich nach außen darstelle, und insofern kann ich die Bezeichnung Maske verstehen. Jedoch war die Maske für mich nichts Eigenständiges, und eventuell noch nicht einmal etwas erlebt Wichtiges. Sondern das Erleben war immer an die innere Perspektive gekoppelt, und die war wichtig für mich.

 

M: Als Autist orientiere ich mich zunächst im Außen, lieber an Dingen als an Menschen. In diesen Dingen (z.B. Musik oder Zahlenspiele oder Lichtphänomene) finde ich sozusagen meinen Geist, meine geistige Orientierung, wieder. Das Außen ist die Projektionsfläche, anhand derer ich meine Identität bilde: wie gesagt Phänomene, zu denen in der Regel nicht andere Menschen gehören, zunächst einmal jedenfalls!
Insofern ist der Autist nicht jemand, der projiziert, seine Wünsche oder Sehnsüchte oder seinen Ärger durch Konflikte oder Kommunikation mit anderen auslebt. Natürlich gibt es hinter seinem "Ich", das sich eben z.B an Musik orientiert, auch noch eine Befindlichkeit persönlicher Natur, das tiefere Befinden im Sinne von Traurig-Sein oder Fröhlich-Sein etc. Aber diese Befindlichkeiten mache ich als Autist weniger zu meiner 'Ich-Kommunikation' mit anderen, ich verstecke sie meistens. Was nicht heißt, dass man sie mir nicht trotzdem irgendwie anmerken kann. 

 

S: Spannend, diese zwei Perspektiven so gegenübergestellt zu sehen.

 

Menschen benutzen in sozialer Kommunikation oft so etwas wie eine Maske oder eine Rolle, die sie spielen, um das "wahre Ich", die eigentliche Befindlichkeit, zunächst einmal vor der sozialen Situation zu schützen. Für Autisten gibt es aber so eine Maske, eine Rolle, die man spielt nicht und unter anderem deswegen tun sie sich in sozialer Kommunikation so schwer.

 

S: Das spannende für mich an dieser Gegenüberstellung ist, zu verstehen, dass es diese unterschiedlichen Perspektiven gibt, und - in unserem gemeinsamen Gespräch anschließend - dass sich herausgestellt hat, dass es in der "nicht autistischen" Welt offensichtlich auch noch einmal die Unterschiedlichkeit gibt, dass manche Menschen sich mit ihren Masken sehr identifiziert und wohl fühlen und andere - so wie ich oben aus meiner Erfahrung schreibe - eher nicht damit identifiziert sind.

Die Frage, wie entsteht so eine positive Identifizierung mit dem was wir "Masken" genannt haben finde ich wichtig. Meine Einschätzung - weil ich persönlich eine Maske kenne, für die dies zutrifft - ist, dass dies die Folge von spielerischem Entdecken von Rollen ist, das in der frühen Entwicklung vermute ich dann stattfindet, wenn das Kind beginnt, sich aus der engen sicheren Beziehung zu lösen und die Welt zu entdecken. Mit dieser Welt spielerisch umgeht und dabei sicher und mit Freude/Spaß von den Bezugspersonen begleitet wird.

 

M: Das Spielen einer Rolle setzt für das "Ich" eine innere Orientierung, einen Referenzpunkt, voraus, die ein autistischer Mensch nicht in dem nötigen Maße besitzt. Um mich in eine Rolle sozusagen "von mir weg" zu bewegen, brauche ich diesen inneren Referenzpunkt, der sozusagen die Verbindung zu meinem "wahren inneren Selbst" ermöglicht, während ich mich im Rollenspiel der sozialen Kommunikation befinde. Dieser Referenzpunkt ist wirklich so etwas wie ein inneres "Morsen", eine Zeichen, das meine Orientierung in dem Konstrukt der 'Selbst-Identität' ermöglicht. Es ist zu vermuten, dass seine Herausbildung, seine Entwicklung, eben durch die oben erwähnten frühkindlichen Abgrenzungs- und Orientierungsvorgänge entsteht.

 

Hier ist aber meiner supjektiven Einschätzung nach vor Verwirrung zu warnen: Autisten sind meiner Beobachtung nach oft zu vielen Vorgängen, die Psychologen auch als "Mentalisierung" beschreiben, in der Lage. Aber nicht, weil sie andere wirklich lesen, sondern weil sie blitzschnell "desorientieren". Ihr Geist kann sich sozusagen an andere Stellen der Realität, sei es jetzt Dinge oder sei es auch Menschen, bewegen. Ich kann mich hervorragend "in andere hinein begeben", - meinen Geist in diese Person "desorientieren" - und ich fühle mich in dem Moment so, als ob ich die andere Person wäre. Das hat aber auf eine paradoxe Weise nichts damit zu tun, dass ich mich im Sinne von Kommunikation wirklich in die Rolle des anderen hineinversetze und daraus ein soziales Gespräch entwickle. Es ist "einfach" nur die Fähigkeit autistischen Geistes, sich an einen anderen Ort hin zu orientieren. 

 

 

Von vielen Autisten wird berichtet, dass sie kein wirkliches 'Ich-Gefühl' hätten. Woran wird dies bemerkt?

 

M: Zunächst beobachten wir bei Autisten, dass da etwas "anders" ist. Aber was ist da "anders" und ist das etwas, was mit einem Ich-Gefühl zu tun hat? Klar scheint nur zu sein, dass die Perspektive der Wahrnehmung eine andere ist. 'Wahrnehmung' aber hat direkt etwas mit dem Gefühl von Identität/Personalität zu tun, - viele schwierige Begriffe...

 

S: Meine Ich-geprägten Impulse gehen vorrangig von meinen Bedürfnissen aus. Wenn ich mit Klienten gearbeitet habe, habe ich häufig erlebt, dass manche Bedürfnisse gar nicht wahrgenommen oder manchmal vielleicht auch nur nicht geäußert werden. Aus meiner Perspektive (vor dem Hintergrund meiner Ausbildung) stellt die Ausgangsituation eines fehlenden Ich-Erlebens, wenn dies denn so ist (und das fände ich spannend hier näher zu diskutieren), einen wesentlichen Teil des unterschiedlichen Erlebens und Reagierens im Alltag aus, der nicht leicht zu fassen ist.

 

Aber woher kommen 'Ich-Impulse' und wie unterscheiden sich Impulse, die von einem 'Ich-Erleben' gesteuert sind von Impulsen, die ohne dieses klare 'Ich-Erleben' gesteuert sind?

 

S: Meine Einschätzung an dieser Stelle ist, dass Impulse IMMER von einem Bedürfnis herrühren (bzw. instinktivem Drang), weil durch sie auf ganz grundlegender Ebene das eigene Überleben gesichert wird und sie zunächst auch genau diese Funktion haben. Wenn es jedoch (noch) kein 'Ich-Erleben' gibt, dann sind die Impulse, die zu beobachten sind und die sich vermutlich vollständig ohne bewusste Steuerung umsetzen, eventuell die Fährte auf der man zu dem bereits existierenden "Ich" finden könnte. Welches jedoch wahrscheinlich nur wenig bis kaum/gar nicht entwickelt ist. Und dann wäre die Frage, wie und was fördert diese Entwicklung.

 

M: Ein Impuls hin zu etwas, also: etwas zu wollen oder nicht zu wollen, setzt ja voraus, dass vorher auf der Ebene der Wahrnehmung etwas "funktioniert" hat, was zu diesem Impuls führt. Ich fürchte, dass (hier spreche ich aus eigener Betroffenheit), da bei Autisten so Einiges zumindest ganz anders "funktioniert" hat und dieses Andere wiederum dazu führt, dass wir es hier nicht mit den "normalen" Impulsen des Wollens und der Bedürfnisbefriedigung zu tun haben. Weil solche normalen Impulse voraussetzen würden, dass auf einer sehr frühen Ebene eine Informationsverarbeitung stattfinden konnte, die die Wahrnehmung dazu führt, zu wissen, was ein 'EIGENES BEDÜRFNIS' im Sinne dessen, was als "normal" gilt, ist.

 

S: Kannst du Beispiele geben für Impulse, so wie du sie aus autistischer Perspektive wahrnimmst?

 

M: Ich glaube, dass mit entscheidend an autistischer Wahrnehmung (so wie ich sie jedenfalls erlebe) ein Impuls des 'spezifischen Abwendens', des 'Wegdrehens' der Wahrnehmung ist, einer eigenen Wahrnehmung, die vermutlich auf ganz früher Stelle überfordert war oder jedenfalls nicht in der Lage, Informationen so zu verarbeiten, dass ein einfaches 'Hinwenden zu' möglich wäre. Daraus resultieren dann Impulse des "Handelns" oder "Wollens", die sich von der überfordernden Umwelt abwenden. Ich glaube nicht, dass das bereits Ich-Impulse sind, sondern es sind Schutz-Impulse vor Überflutung.

 

S: Das finde ich sehr spannend. Denn das kann ich wiederfinden in meinen Beobachtungen und ich würde sagen, dass genau diese Schutzimpulse auch 'Ich-Impulse' sind, weil sie ein "Ich" schützen, was vermutlich nicht als "Ich" erlebt wird, weil es noch viel zu wenig ausgeprägt und entwickelt ist.

Und ein noch etwas ergänzender Gedanke an dieser Stelle: es macht unter Umständen auch Sinn bei Bedürfnissen eine Unterscheidung zwischen instinktgetriebenen Bedürfnissen und weiter entwickelten Bedürfnissen (hierfür habe ich gerade keinen Namen) zu unterscheiden. Die instinkt-getriebenen Bedürfnisse sind immer mit der direkten Überlebenssicherung verknüpft. Es gibt aber auch andere Bedürfnisse, wie zum Beispiel einen Spaziergang am Meer machen zu wollen, um ihn und die Natur zu genießen oder sich Bewegung zu verschaffen oder ein Eis essen zu wollen. Diese Bedürfnisse sind weniger instinkt-getrieben, sondern eher mit meinem persönlichen Wohlbefinden verknüpft und von Emotionen angetrieben. Und für diese Art von Bedürfnissen braucht es vermutlich ein 'mehr' an 'Ich-Identität' als für rein instinktive Bedürfnisse, die biologisch in uns angelegt sind.

 

Aber was könnte eine (reife) 'Ich-Identität' ausmachen? Was ist ein "Ich"?

 

M: Ich vermute, ein "Ich" bildet sich, neben dem Erleben einer realen Bedürfnisbefriedigung, welches dann wiederum zu einem 'Wollen' weiterer Bedürfnisbefriedigung führt, auch dadurch heraus, dass schon zu einem frühen Zeitpunkt (den wir später diskutieren müssen), so etwas wie ein natürliches Grenzgefühl zur Mutter entwickelt wird. Das Kleinkind beginnt zu registrieren, dass der eigene Erlebensraum von dem der Mutter unterschieden ist und das gerade durch diese Unterscheidung eine 'ich-gesteuerte' Bedürfnisbefriedigung möglich wird. Dieses Gefühl des unterschiedenen Raumes setzt schon vor dem Spracherwerb ein (dies kann ich nur vermuten). Es ist wohl eine Art 'Instinkt', der dem neu heran wachsenden Wesen zu Teil wird, wenn diese Abgrenzung zum "Muttertier" informativ möglich ist.

 

S: Was meinst du mit informativ möglich?  Und – hier bin ich keine Spezialistin, sondern verfüge nur über laienhafte Information: die Phase der Abgrenzung im Sinne von Erleben, dass man getrennt von der Mutter existiert, findet (m.E.) sicher weit vor der Sprachentwicklung statt .

 

Meine momentane Einschätzung zu dem Punkt ist, dass es so etwas wie eine 'Kern-Identität' gibt, die zunächst überhaupt eine 'Ich-Wahr-nehmung' ermöglicht. (Dies lässt sich wiederfinden in der Davis-Theorie). Diese Kernidentität entwickelt sich früh und ist für eine erfolgreiche Entwicklung auf das aller Empfindlichste auf Schutz angewiesen, um sich überhaupt bilden zu können und extrem störanfällig. Ist sie entwickelt, dann folgen daraus klar erlebte 'Ich-Impulse', die die Entwicklung einer Identität weiter anhand von Bedürfnissen vorantreiben, durch die verschiedenen Phasen der kindlichen Entwicklung hindurch.

 

M: Wobei klar zu sein scheint, dass es unterschiedlichste Formen der Entwicklungsstörung personaler Identität geben kann. Sie führen zu narzisstischen Symptomen, Depressionen, Essstörungen, Zwangs-handlungen etc..

 

Mir wäre es demgegenüber wichtig darauf hinzuarbeiten, dass Autismus "...eigentlich nur eine andere neuronale Kultur ist", wie sich Esther Schramm in ihrem Beitrag auf Deutschlandradio ausdrückt. Mit anderen Worten: der Begriff der "Ich-Störung" wäre meines Erachtens mit großer Vorsicht zu gebrauchen. Es scheint sich um so etwas wie eine abweichende personale Verfasstheit zu handeln, wo das "Ich" sozusagen "anders unterwegs" ist, seine Orientierungspunkte in Raum und Zeit anders "aushandelt", als das der (vermeintlich) normale Mensch macht.

 

S: Dem würde ich mich vollständig anschließen! Das Interview gefällt mir ausgesprochen gut, und hier werden deutliche, klare Ich-Bedürfnisse formuliert und vertreten aus einem Verständnis für die eigene Person heraus, wie man gestrickt ist und was einem gut tut. Heißt dies eventuell auch, je mehr ich in dem inneren Anpassungskonflikt gefangen bin, zu versuchen, so zu sein, wie ich denke, dass meine Umgebung dies verlangt, weil ich denke, dass dies notwendig ist – aus einem falschen oder ungenügenden oder fehlenden 'Ich-Verstehen' heraus, desto weniger finde ich einen klaren Zugang und als Folge auch keinen Ausdruck meiner Bedürfnisse? In dem Moment, wenn das 'Ich-Verstehen' sich so, wie nach der Diagnosestellung (höre dazu Esther Schramms Beschreibung...) einstellt und zu mehr Selbstvertrauen führt, ist es mir möglich, klarer meine Bedürfnisse zu identifizieren und dann auch zu äußern/umzusetzen.

 

Was ich an dieser Stelle (der Ausprägung von 'Ich-Identität') auch spannend finde, ist die Arbeit von Peter Levine, der – soweit ich informiert bin - sich wiederum auf die Arbeit von Stephen Porges bezieht und die Entwicklung des zentralen Nervensystems mit der Entwicklung der Fähigkeit in Erregung und wieder in Beruhigung zu kommen in Bezug auf Trauma und Traumaheilung intensiv erforscht hat. Das zentrale Nervensystem ist allen Einflüssen von außen offensichtlich bis einschließlich zum 4. Monat nach der Geburt vollständig schutzlos ausgeliefert, und somit auf einen geschützten, nährenden und konfliktfreien Raum angewiesen, - in der Zeit der Schwangerschaft sowie in den ersten Monaten nach der Geburt. Meine Vermutung (aufgrund eigener Erfahrung als nicht-autistische, aber 'ich-geschwächte' Person) ist die, dass dieser geschützte "Raum" wesentlich ist für die grundlegende Entwicklung eines stabilen 'Ich-Gefühls'. Im eigenen Erleben musste ich zentrale Teile meines eigenen 'Ich-Gefühls' erst rückwärts entdecken, und dies geschah mit intensiver Hilfe von sehr einfühlsamer und (in Bezug auf frühkindliche Entwicklung) gut geschulter Begleitung. Es gab immer die Kombination aus Schutz und Spiegelung, die zu einem rückwärts Entdecken von neuem 'Ich-Anteil' geführt hat und die Wiederentdeckung der auf einer nervlichen Ebene "eingefrorenen" Teile des Verdauungsapparates hat einen ganz zentralen Teil in dem "mich in mir selbst" wiederfinden bzw. entdecken ausgemacht.


 

M: Aber kommen wir auch darauf zurück, dass das "Ich" etwas mit Raumerfahrung zu tun hat und dieser Raum sich auf eine charakteristische Weise herstellen könnte, indem eine bedürfnisorientierte Kommunikation zwischen Kleinkind und Mutter (schon im präverbalen Alter des Kindes) stattfinden kann. Ich sprach von einer "informativen" Erfahrung dieses Raumes für das Kind, dessen Organismus von der sich zuwendenden Person die Nachricht bekommen hat, dass 'es' existiert, als etwas im Raum einzeln Existentes, das dennoch nicht vereinzelt ist, sondern sich über Signale mit anderen Menschen verbinden kann. Diese Möglichkeit der sozusagen positiven Verbindung zu anderen über Austausch von kommunikativen Signalen setzt aber eben voraus, dass diese Signale von dem Bewusstsein des empfangendes Kleinkindes so dekodiert werden können, dass sozusagen eine Stärkung des Gefühls für die eigene "positiv getrennte" Existenz gemacht werden kann (auch das schon präverbale Lernvorgänge der Kommunikation).

Können die Signale aus (sicher bisher nur spekulativ benennbaren) Gründen nicht so empfangen und dekodiert werden, dass eine solche positive Stärkung des Gefühls der Eigenexistenz möglich ist, muss sich das Bewusstsein anders orientieren, um überhaupt irgendwie lebensfähig zu werden, sich andere Informationen als Schlüsselreize für eine sozusagen "autogen" hergestellte Kommunikation mit sich selbst besorgen. Das so entstehende "Ich" kommuniziert also erstmal mit sich selbst (daher das Wort "Autist"....), - weil in der lernenden Informationsverarbeitung der Austausch von Signalen mit der kommunizierenden Außenwelt nur eingeschränkt verarbeitet und verstanden werden konnte.

 

Das "Ich" benötigt also schon in frühester (nur unbewusst erlebter) Ausprägung eine Art innere Positionsbestimmung: Hier bin "Ich", - als existierendes Etwas, das seine eigene (Positions-)-Bestimmung durch Signalaustausch mit anderen Menschen erhält. Erfolgt diese innere Positionsbestimmung aber auf Grund erwähnter Ortungsprobleme nicht an Hand von Kommunikation mit anderen Menschen, sondern durch eine Orientierung des eigenen Bewusstseins auf andere Signalträger (Außenreize von Dingen, Ordnungssysteme wie Zahlen, Töne etc.) hin, unterbleibt eben eine innere Positionsbestimmung, die sich in Bezug auf andere Menschen hin ortet. 

Natürlich bemerkt der Betroffene das Fehlen eines gelungenen Signalaustausches mit anderen Menschen, je nach Stärke der eigenen Betroffenheit, dramatisch heftig oder auch nur sehr dezent, z.B. dadurch, dass er immer wieder nicht verstanden wird, möglicherweise ausgegrenzt oder gemobbt wird. 

 

Mich interessiert aber auch die beschriebene Ersatzorientierung, welche eine eigene innere Ausrichtung hin auf Dinge und andere Signale als die der mitmenschlichen Kommunikation vornimmt, auch aus sozusagen perspektivischen Gründen. Weil diese natürlich gegenüber dem "allzu Menschlichen", welches ja oft auch ein Gefangensein in den immer ähnlichen sich endlos wiederholenden Kommunikationsmechanismen (die ja oft genug auch "Störungen" beinhalten)  bedeutet, eine Chance bietet! Die Orientierung weg von den üblichen Kommunikationsweisen, weg auch von deren Ausrichtung auf Macht und Kontrolle, weg vom Rumeiern in neurotischen Signalwegen, kann dazu führen, zu einem Austausch zwischen Menschen zu gelangen, wo das kommunikative Interesse aneinander erstmal über Sachthemen kanalisiert wird und sozusagen über eine dort entzündete Leidenschaft dann wiederum die Brücke zum Persönlichen, Emotionalen findet. Ohne aber vorher in Mechanismen der Macht und Manipulation üblicher Kommunikationsstrategien verheddert zu werden. Das wäre sozusagen die Utopie autistischer Kommunikation. 

 

Das "Ich" repräsentiert sich ja auch in Form von - ich sage einmal Masken - die sich nicht immer kongruent zu der inneren Wirklichkeit befinden. Vielleicht ist das ein Thema, was noch interessant sein könnte hier zu beleuchten?

 

S: Ich kann vor meinem persönlichen Hintergrund sagen, dass mich dieses Phänomen schon immer irgendwie irritiert hat, ohne dass ich wirklich verstanden habe, was dabei genau der Punkt ist. Es war eher die theoretische Diskussion, die ich verwirrend fand. "Ich" ist für mich immer (subjektiv gefühlt) ausgehend von meinem inneren Erleben gewesen. Wenn ich mich dann in Kontexten sozial verhalten habe (weil ich es musste) habe ich sicherlich deutlich auch Diskrepanz wahrnehmen können zwischen meinem inneren Befinden und dem was ich nach außen darstelle, und insofern kann ich die Bezeichnung Maske verstehen. Jedoch war die Maske für mich nichts Eigenständiges, und eventuell noch nicht einmal etwas erlebt Wichtiges. Sondern das Erleben war immer an die innere Perspektive gekoppelt, und die war wichtig für mich.

 

M: Als Autist orientiere ich mich zunächst im Außen, lieber an Dingen als an Menschen. In diesen Dingen (z.B. Musik oder Zahlenspiele oder Lichtphänomene) finde ich sozusagen meinen Geist, meine geistige Orientierung, wieder. Das Außen ist die Projektionsfläche, anhand derer ich meine Identität bilde: wie gesagt Phänomene, zu denen in der Regel nicht andere Menschen gehören, zunächst einmal jedenfalls!
Insofern ist der Autist nicht jemand, der projiziert, seine Wünsche oder Sehnsüchte oder seinen Ärger durch Konflikte oder Kommunikation mit anderen auslebt. Natürlich gibt es hinter seinem "Ich", das sich eben z.B an Musik orientiert, auch noch eine Befindlichkeit persönlicher Natur, das tiefere Befinden im Sinne von Traurig-Sein oder Fröhlich-Sein etc. Aber diese Befindlichkeiten mache ich als Autist weniger zu meiner 'Ich-Kommunikation' mit anderen, ich verstecke sie meistens. Was nicht heißt, dass man sie mir nicht trotzdem irgendwie anmerken kann. 

 

S: Spannend, diese zwei Perspektiven so gegenübergestellt zu sehen.

 

Menschen benutzen in sozialer Kommunikation oft so etwas wie eine Maske oder eine Rolle, die sie spielen, um das "wahre Ich", die eigentliche Befindlichkeit, zunächst einmal vor der sozialen Situation zu schützen. Für Autisten gibt es aber so eine Maske, eine Rolle, die man spielt nicht und unter anderem deswegen tun sie sich in sozialer Kommunikation so schwer.

 

S: Das spannende für mich an dieser Gegenüberstellung ist, zu verstehen, dass es diese unterschiedlichen Perspektiven gibt, und - in unserem gemeinsamen Gespräch anschließend - dass sich herausgestellt hat, dass es in der "nicht autistischen" Welt offensichtlich auch noch einmal die Unterschiedlichkeit gibt, dass manche Menschen sich mit ihren Masken sehr identifiziert und wohl fühlen und andere - so wie ich oben aus meiner Erfahrung schreibe - eher nicht damit identifiziert sind.

Die Frage, wie entsteht so eine positive Identifizierung mit dem was wir "Masken" genannt haben finde ich wichtig. Meine Einschätzung - weil ich persönlich eine Maske kenne, für die dies zutrifft - ist, dass dies die Folge von spielerischem Entdecken von Rollen ist, das in der frühen Entwicklung vermute ich dann stattfindet, wenn das Kind beginnt, sich aus der engen sicheren Beziehung zu lösen und die Welt zu entdecken. Mit dieser Welt spielerisch umgeht und dabei sicher und mit Freude/Spaß von den Bezugspersonen begleitet wird.

 

M: Das Spielen einer Rolle setzt für das "Ich" eine innere Orientierung, einen Referenzpunkt, voraus, die ein autistischer Mensch nicht in dem nötigen Maße besitzt. Um mich in eine Rolle sozusagen "von mir weg" zu bewegen, brauche ich diesen inneren Referenzpunkt, der sozusagen die Verbindung zu meinem "wahren inneren Selbst" ermöglicht, während ich mich im Rollenspiel der sozialen Kommunikation befinde. Dieser Referenzpunkt ist wirklich so etwas wie ein inneres "Morsen", eine Zeichen, das meine Orientierung in dem Konstrukt der 'Selbst-Identität' ermöglicht. Es ist zu vermuten, dass seine Herausbildung, seine Entwicklung, eben durch die oben erwähnten frühkindlichen Abgrenzungs- und Orientierungsvorgänge entsteht.

 

Hier ist aber meiner supjektiven Einschätzung nach vor Verwirrung zu warnen: Autisten sind meiner Beobachtung nach oft zu vielen Vorgängen, die Psychologen auch als "Mentalisierung" beschreiben, in der Lage. Aber nicht, weil sie andere wirklich lesen, sondern weil sie blitzschnell "desorientieren". Ihr Geist kann sich sozusagen an andere Stellen der Realität, sei es jetzt Dinge oder sei es auch Menschen, bewegen. Ich kann mich hervorragend "in andere hinein begeben", - meinen Geist in diese Person "desorientieren" - und ich fühle mich in dem Moment so, als ob ich die andere Person wäre. Das hat aber auf eine paradoxe Weise nichts damit zu tun, dass ich mich im Sinne von Kommunikation wirklich in die Rolle des anderen hineinversetze und daraus ein soziales Gespräch entwickle. Es ist "einfach" nur die Fähigkeit autistischen Geistes, sich an einen anderen Ort hin zu orientieren. 

 

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