Autismus, Begabung und Lernen

Die besondere Fähigkeit umfassenden 'In-Beziehung-Seins' und das 'Immer-Schon-Da' eines teilhabenden Bewusstseinsstroms, der zu diesem 'In-Beziehung-Sein' führt.

 

Neulich sagte ein Schüler zu mir: "Die Dinge, die ich kann, kann ich sofort." Er zweifelte  den zeitlichen Vorgang des Lernens an (eine häufige Erfahrung mit ADHS-veranlagten Menschen). Entweder, so seine Wahrnehmung, ist alles sofort klar oder es ist eben als 'Lernbares' sozusagen nicht existent. 

 

Ich stelle hier nun eine vielleicht etwas provokante These auf: Der Junge hat in großen Teilen durchaus Recht. Und autistische Fähigkeiten wie sie in singulären Fällen durch die sogenannten "Savants" oder auch "Idiots Savants" bekannt sind, könnten die Ansicht des Jungen zumindest teilweise stützen. Lernen kann so schnell erfolgen, dass es sich eher als eine Art schlagartig vorhandenes Wissen offenbart - durch 'wissende Erkenntnisse', welche sich in Form innerer Bilder mitteilen, deren Erscheinen so schnell erfolgt, dass man von einem normalen zeitlichen Lernverlauf gar nicht mehr sprechen kann. Es handelt sich dann wohl eher um so etwas wie "unmittelbare innere Erkenntnisse". 

 

Schon das Wort 'Erkenntnis' weist in seiner sprachlichen Logik (die Endung -is bezeichnet einen zeitlichen Vorgang, der bereits stattgefunden hat) auf etwas hin, das vorher noch nicht gekannt wurde. Das allerdings könnte man hinterfragen. Vielleicht ist das menschliche Bewusstsein über bestimmte Strukturen dermaßen mit der Außenwelt verflochten, dass es eigentlich nur darum geht, diese Verwebung dem Geist zugänglich zu machen und im richtigen Kontext wahrzunehmen, in dem die Filter, die eine Wahrnehmung dessen verhindern, durchlässig oder durchlässiger gemacht werden. Vermutlich wurden sie von der Natur als notwendiger Schutz vor Überfrachtung und Überflutung mit Information wie ein evolutionärer Damm aufgebaut. Schließlich brauchte der Mensch erst einmal auch die Fähigkeit, sich in einer 'Realzeit' zu orientieren und dort langsam Wahrnehmungen zu integrieren, um in den Prozess einer zeitlich sich vollziehenden Evolution vorsichtig mit einsteigen zu können. Aber vielleicht ist in dieser Evolution bald ein Zeitpunkt gekommen, wo der menschliche Geist auch dazu fähig ist, seine eigene Einschränkung durch die Zeit zu überwinden, indem er sich selbst und seine bereits vorhandenen Fähigkeiten, alles auf eine sehr spezifische Weise schon zu wissen, wirklich erkennt. 

 

Lernen wäre demnach auch ein Prozess sich ständig vervollkommnender Selbsterkenntnis. Der Geist bildet seine eigene Natur nicht mehr nur dadurch ab, dass er die Außenwelt beschreibt und verstehend analysiert, sondern er liefert vielmehr multiperspektivische Emergenzen, also Phänomene, die aus seiner eigenen Verwebung mit den Dingen, die er betrachtet, entstehen. Nichts anderes ist ja nebenbei gesagt auch Kunst: ein 'Mehr' entsteht daraus, dass der Geist offenbar mehr ist, als bloße Natur. 

 

Was aber würde das bedeuten in Bezug auf das Lernen z.B von einer Sprache oder eines Musikstückes? 

 

Ich denke, es würde bedeuten, dass der Lernende in der Lage ist, sein eigenes Bewusstsein als Teil des zu lernenden Systems (Sprache, Musik, Mathematik...) wahrzunehmen und in dieser Wahrnehmung das 'Verstehen' anders zu steuern. Dieses 'teilnehmende Verständnis' eines noch "unbekannten" Äußeren würde dann vermutlich durch eine Art bildhafter Übersetzung, deren Ablaufmöglichkeit von der "Befreiung" der Filterblockaden unterstützt wäre, erfolgen. Ein Beispiel: Ich erlebe ein Präludium von Bach nicht mehr als verwirrende Überflutung schwer zu memorierender Tonkaskaden, sondern ich kann das Zusammenwirken des tonalen Systems nun als ein mehrdimensionales Bild in mir wahrnehmen und es sogar sukzessive abrufen. Oder am Beispiel Sprache: Ich erlebe die Syntax und die Flut an neuen Vokabeln einer fremden Sprache nicht mehr als Kauderwelsch, das ich mir mühsamst aufschlüsseln muss, sondern ich erfasse das "musikalische" Gesamtsystem der Laute und ihre grammatikalischen Varianten auf eine Art und Weise, in der mir das Gesamtsystem 'Sprache' wie ein Gebäude mit zahlreichen Räumen und Nischen, Stockwerken und Türen unmittelbar zugänglich und verstehbar wird. 

 

Es würde sich also um einen Vorgang mehrdimensionaler Verbildlichung handeln, durch den die sukzessiv-zeitliche Langsamkeit der sozusagen horizontal ablaufenden Erkenntnis   abgelöst wird durch die Gleichzeitigkeit vieldimensionaler Wahrnehmungs- und Denkvorgänge. Einer Gesamtwahrnehmung, die sich auch dadurch auszeichnet, dass sie eine Verbindung zwischen akustischen Vorgängen (als horizontal-zeitliche Qualitäten) und visuellen Vorgängen (als vertikal-räumlich-zeitliche Qualitäten) herzustellen in der Lage ist. Dies kann auch so geschehen, dass eine rein abstrakte Zahlen-Qualität in eine wie auch immer ablaufende zeitlich-räumliche Qualität transformiert wird. 

 

Die autistischen Fähigkeiten, welche sich oft genug als Fähigkeiten zur rein bildhaften und multiperspektivischen Wahrnehmungsverarbeitung erweisen, könnten hier m.E. durchaus eine Art Evolutionssprung markieren - einen qualitativen Sprung in den geistigen Fähigkeiten der Menschen, sowohl linear-logisch und ableitend zu denken, als auch sprunghaft-bildhaft Wahrnehmungs- und Denkräume zu erschließen, die die (falsch verstandene) Eindimensionalität logischen Denkens mehrdimensional erweitern.

 

Nichts anderes ist doch Kreativität, mag man an dieser Stelle einwenden und dies alles ist ganz normal und Jahrtausende alt. Ich denke, das ist es auch. Allerdings hat unsere Zivilisation seit dem Zeitalter des Rationalismus die bildhaften Fähigkeiten eher den Künstlern zugesprochen und das Gebiet des Lernens dem Joch der Eindimensionalität unterworfen. Heute zeigen uns schon die neuen Bild-Techniken der Computer-Software in vielen Bereichen, dass möglicherweise ganz andere Zeiten des Auffassens und Lernens längst begonnen haben. 

Michels Monolog

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